Lucy
das alles? Du kannst mir doch sicher noch mehr erzählen. Welche Farbe hatte ihr Haar? Ihre Augen?«
»Schwarz«, erwiderte Lucy. Sie dachte daran, wie die tote Leda an jenem letzten Tag in der Hütte dagelegen hatte, das Fell auf ihrer Brust verklebt von ihrem eigenen Blut. »Und braun.«
»Hat sie dich abends zu Bett gebracht?«
»Ja.« Lucy sah noch vor sich, wie Leda ihr immer die schönsten Nester in den höchsten Ästen gebaut hatte.
»Erzähl mir von einer deiner liebsten Erinnerungen an deine Mutter.«
Daran konnte Lucy sich sehr gut erinnern. Eines Tages hatte |120| Leda Lucy ganz früh am Morgen durch die hohen Äste der Baumwipfel tief in den Wald hineingeführt. Leise und rasch hatten sie sich vorwärtsbewegt. Um die Mittagszeit herum kamen sie zu einer Lichtung, auf der eine andere Familie lebte. Leda wollte, dass Lucy sie sich anschaute, und ließ ihr viel Zeit dafür. Der Wind kam aus der Richtung der Familie, und so konnte Lucy die Düfte jedes einzelnen Bonobo riechen. Ihr Geruch und ihr Aussehen gefielen ihr. Sie hatten alle gesundes, glänzendes Fell und schienen sanftmütig und verspielt zu sein. Ein großes Männchen im Teenageralter fand Lucy besonders interessant. Nach einiger Zeit zogen Leda und sie sich wieder in die Bäume zurück.
Lucy hatte gewusst, was für ein Ausflug das gewesen war. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass sie langsam erwachsen wurde. Von einem Weibchen wurde erwartet, dass sie andere Familien aufsuchte, sich mit verschiedenen Männchen dieser Familien paarte und sich irgendwann bei einer benachbarten Sippe niederließ. Zu dieser Zeit hatte ihr Vater zum ersten Mal davon gesprochen, dass sie nun ihre Reise nach London vorbereiten müssten, ehe Lucys Verwandte sie fortschaffen würden.
»Nun? Erinnerst du dich an nichts von deiner Mutter?«, hakte die Schulpsychologin nach.
Doch was konnte Lucy Dr. Mayer erzählen? Sollte sie erzählen, wie sie sich an das Rückenfell ihrer Mutter geklammert hatte, als diese nur so durch die Baumwipfel des Urwalds flog? Sollte sie Dr. Mayer erzählen, wie sie und ihre kleinen Cousins und Cousinen kreischend und plappernd herumgehüpft waren, als Leda und Duke sich paarten; oder wie sie alle sich amüsiert hatten, als sie Leda und ihre beste Freundin Vicki im hohen Sommergras liegen und ihre Genitalien aneinander reiben sahen? Vielleicht konnte Lucy der guten Frau |121| Doktor ja erzählen, wie künstlerisch veranlagt Leda gewesen war. Wie gern Lucy an einem heißen Nachmittag schläfrig herumgehangen und Leda dabei zugesehen hatte, wie die mit ihren eigenen Exkrementen Muster auf die Felsen malte.
Lucy begann leise zu weinen. »Es tut so weh. Sie ist tot, und es tut weh, sich daran zu erinnern.«
Dr. Mayer begann zu schreiben. Als Lucy sich wieder beruhigt hatte, saß Dr. Mayer mit aneinandergelegten Händen da und betrachtete sie. »Lass uns damit in der nächsten Sitzung weitermachen, ja?«
Lucy stand auf und eilte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Seit den Gesprächen mit Charles Revere und der Schulpsychologin beschäftigte Jenny ständig die bange Frage, wie lange Lucy und sie ihr Geheimnis wahren konnten. Einerseits schien es so einfach: Wer würde die Wahrheit schon glauben? Andererseits wusste Jenny, dass alles an Lucys Existenz die Leute aufhorchen ließ. Und sie meinte auch zu wissen warum. Es war das, was Lucy den Großen Strom nannte, diese Flut an Informationen, die Tiere und sogar Menschen austauschten, meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn ein Hund einem anderen begegnete, mochten sie aneinander herumschnüffeln, miteinander spielen oder sogar kämpfen. Doch über eines waren sie sich ganz sicher: Sie waren beide Hunde. Wenn ein Hund auf einen Fuchs traf, erkannten wiederum beide augenblicklich an Geruch, Aussehen und unendlich vielen anderen Signalen, dass sie nicht zur selben Tierart gehörten. Es verbanden sie viele Ähnlichkeiten, sie hatten sogar einen gemeinsamen Vorfahren. Aber sie wussten, dass sie nicht ihresgleichen vor sich hatten.
Und jetzt fragte sich Jenny, ob die Menschen in ihrer Umgebung |122| nicht auch diesen Moment unbewusster Erkenntnis hatten, den sie bei ihrer ersten Begegnung mit Lucy gehabt hatte. Harry war es auch aufgefallen. Alles, angefangen bei ihrem Geruch über ihre Körperkraft bis hin zu ihrem exotischen, hübschen Äußeren, verströmte die Botschaft, dass sie nicht von derselben Art war wie ihr Betrachter. Sicher, diese Ahnung würde nie
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