Lucy
vorbeischauen. Lucy hatte heute vor Unterrichtsbeginn ihre erste Sitzung allein mit der Psychologin. Jenny sagte sich, dass Lucy ein Teenager war und dieselben Rechte wie alle anderen Teenager hatte. Doch diesem Gedanken folgten sogleich Befürchtungen: Hatte Lucy überhaupt irgendwelche Rechte? Dürften sie Lucy, wenn sie es herausfanden, in einen Zoo sperren? Dürften sie ihr Lucy einfach wegnehmen und sie in einem Labor unter Beobachtung stellen? Dürften sie Lucy … einschläfern, so wie sie es mit streunenden Hunden machten? Donna hatte ihr doch erzählt, was in den Laboren vor sich ging.
Jenny versuchte diese Schreckensvisionen zu verdrängen und sich auf das Panorama zu konzentrieren. Der Lake Shore Drive verlief durch die Parklandschaft, die sich am Ufer des Lake Michigan entlangzog. Sonnenlicht glitzerte auf dem blauen Wasser. Möwen flogen tief über den Sand hinweg. Menschen joggten, führten Hunde spazieren, fuhren Fahrrad und genossen die letzten warmen Tage, bevor der Winter hereinbrach. Sie sollte mit Lucy unbedingt noch am See entlang radeln, überlegte Jenny, ehe sich ihr ein anderer Gedanke aufdrängte: Wir sollten Stones Notizbücher vernichten.
Jennys Labor war in einem alten Universitätsgebäude etwas abseits vom Campus untergebracht. An der einen Längsseite des Raumes zog sich ein Labortisch aus schwarzem Stein |114| entlang, ausgestattet mit Spülbecken und Kupferhähnen, die so alt waren, dass sie schon Grünspan angesetzt hatten. An den anderen Wänden standen dunkle Holzschränke mit Glasfronten, die schier überquollen von Mustern, Proben, Chemikalien und Notizbüchern.
Als sie ihre Tasche auspackte, kam Charles Revere, der Leiter ihres Instituts, herein. »Willkommen zu Haus. Schlimm, das mit den Unruhen. Ich habe David Meece von der Botschaft gesprochen. Das mit Don Stone hatten wir natürlich gehört.«
»Hallo, Charlie.«
»Nun, wir sind jedenfalls alle froh, dass du sicher rausgekommen bist.«
»Danke. Es war ziemlich schrecklich. Ich wünschte nur, wir hätten auch seine Leiche herausbringen können.«
»Soviel ich weiß, habt ihr es selbst kaum geschafft.« Charlie war ein großer, dünner Mann mit einer Nickelbrille, hinter der sich intelligente Augen verbargen. Sein lockiges Haar war rötlich braun und wurde langsam grau, und er trug einen gut gestutzten, zimtfarbenen Bart. Sein ständiges Marathontraining hatte seiner Gestalt etwas Sehniges verliehen. »David Meece sagt, du hast Stones Tochter mitgebracht.«
»Ja. Sie hat Glück, dass sie noch lebt.«
»Was sie dir verdankt, vermute ich. Da hast du äußerst selbstlos gehandelt. Du kanntest das Mädchen gar nicht, oder?«
»Ich habe nur getan, was jeder getan hätte.«
»Ich wusste gar nicht, dass Stone verheiratet war.« Charlie setzte sich auf einen der Hocker, er fühlte sich anscheinend ganz wie zu Hause an Jennys Labortisch.
»Vielleicht war er gar nicht verheiratet. Ich habe die Mutter nie gesehen.«
|115| »Was hat das Mädchen denn erzählt?«
»Sie war ziemlich verwirrt, als ich sie fand.«
»Hm, und was hat sie seitdem erzählt?«
»Um die Wahrheit zu sagen, sie reagiert etwas sensibel auf das Thema. Ich meine, ihre Eltern wurden ermordet.«
»Wenn du ihre Mutter nicht gesehen hast, woher willst du dann wissen, dass sie ermordet wurde? Vielleicht lebt sie noch und fragt sich, wo ihre Tochter ist.«
»Wir versuchen, ihre Verwandten in England ausfindig zu machen. David arbeitet daran.«
Charlie schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr. »Nun, Lehrverpflichtungen hast du jedenfalls keine, weil wir dich nicht zurückerwartet hatten. Lass dir also Zeit und finde erst mal in den Alltag zurück. Wir haben alle Verständnis dafür.«
»Danke.«
»Dann will ich dich mal an deine Arbeit zurückkehren lassen.« Er stand von dem Hocker auf und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Ach übrigens, wie habt ihr das Mädchen eigentlich herausgekriegt?«
»David hat einen Hubschrauber geschickt.«
»Nein. Ich meine in die Vereinigten Staaten. David Meece sagte, es wäre höllisch schwer gewesen, dem Mädchen einen Reisepass zu besorgen. Aber mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.«
Jenny spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, als Charlie immer weiter in dem Thema herumbohrte. Das konnte er. Es hatte ihm in seiner akademischen Karriere schon so manches Mal genützt, wenn es galt, bei möglichen Konkurrenten die Daumenschrauben anzusetzen. »Ich will gar nicht erst so tun,
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