Lucy
als wüsste ich, wie solche Dinge in diplomatischen Kreisen geregelt werden.«
|116| »Verstehe. Hm. Jedenfalls enorm selbstlos von dir. Ich bin froh, dass du heil wieder da bist.«
Jenny seufzte vor Erleichterung, als er endlich gegangen war.
Auf dem Nachhauseweg fuhr Jenny noch bei dem Mädchenheim vorbei, in dem sie ab und zu ehrenamtlich arbeitete. Es war ein altes Ziegelhaus, ein Industriegebäude aus den 1960er Jahren, mit einem Garten und einem Spielplatz dahinter. Das Heim und die evangelische Kirche auf der Straßenseite gegenüber waren die einzigen größeren Gebäude in diesem ansonsten eher bescheidenen Wohnviertel. Jenny parkte ihren Wagen hinter dem Heim und ging quer über die Rasenfläche des Spielplatzes, auf dem ein paar Mädchen an den Geräten herumturnten. Sie kannte keine von ihnen. Dazu war sie zu lange weg gewesen.
Die Tür zum Büro der Heimleiterin stand weit offen, und sie sah Nina, die wie immer überarbeitet wirkte, hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Als sie eintrat, sah Nina auf und fragte mechanisch: »Kann ich Ihnen helfen?« Erst da erkannte sie Jenny. Strahlend sprang sie auf, kam um den Tisch herum und umarmte Jenny. Nina war eine rundliche, verlässlich wirkende Frau mit lockigem braunem Haar, das langsam grau wurde. »Meine liebe Jenny«, sagte sie. »Willst du zurück an unsere Front?«
»Ja, gern. Ich habe zwar nicht allzu viel Zeit, aber ich möchte wenigstens gelegentlich mitarbeiten.«
»Ja, natürlich. Komm, wir trinken einen Kaffee und aktualisieren schnell deinen Papierkram.«
Jenny folgte ihr auf den Flur hinaus.
Als sie den Gemeinschaftsraum betraten, stieg ihr der vertraute Geruch abgestandenen Cafeteria-Essens in die Nase. |117| Ein Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, kam ihnen entgegen. »Hi, Clarissa«, sagte Nina. Doch das Mädchen, das etwa im achten oder neunten Monat schwanger war, antwortete nicht. Nina warf Jenny einen Blick zu.
Sie setzten sich an einen der Cafeteriatische, und Nina füllte ein paar Formulare aus, die sie Jenny unterschreiben ließ. Dann lehnte sich Nina zurück und lächelte. »So. Wir haben gehört, dass es im Kongo Schwierigkeiten gab.«
»Ja, das kann man wohl sagen.«
Eine Zeit lang schwiegen beide. Sonnenlicht fiel durch die schmutzigen Fenster in den Raum herein und sprenkelte den Linoleumboden, während eine große runde Uhr an der Wand mit lautem Ticken die Sekunden zählte.
»Alice hat mit deiner Mutter gesprochen«, nahm Nina das Gespräch wieder auf.
»Wie geht’s Alice?«
»Prima. Sie war vor kurzem in Griechenland.« Nina zögerte. »Deine Mutter sagte etwas von einem Mädchen …«
»Ja, Lucy. Ein reizendes Mädchen ohne Eltern.«
Nina sah Jenny an. In ihrem Lächeln lag Verständnis. »Wir wissen ja, was das bedeutet.«
»Ich bin dabei, sie zu adoptieren.«
Wieder schwiegen sie. Jenny sah zu, wie die Schatten auf dem Boden zitterten, als sich die Bäume vor dem Fenster in einer Brise bewegten.
Nina tippte mit ihrem Stift auf die Formulare, die Jenny gerade unterschrieben hatte. »Meinst du wirklich, dass du schon wieder hier einsteigen solltest? Es klingt, als hättest du in nächster Zeit auch so alle Hände voll zu tun.«
»Doch, doch, auf jeden Fall. Mir fehlt die Arbeit hier.«
»Hm, dein Papierkram ist ja nun in Ordnung. Du wirst also wieder mitarbeiten. Sehr schön. Aber kümmere dich erst |118| mal um Lucy. Hier kannst du jederzeit herkommen. Wir sind immer da.«
Jenny stand auf, und die beiden umarmten sich noch einmal. »Ich habe Angst«, flüsterte sie Nina ins Ohr, »diesmal habe ich richtig Angst, Nina.«
»Ich weiß. Jetzt kannst du nicht mehr um fünf nach Hause gehen und alles hinter dir lassen. Aber du bist stark. Und sie kann von Glück sagen, dass sie dich hat.«
|119| 12
»Erzähl mir von deiner Mutter.«
Lucy mochte diese Frau nicht. Sie mochte ihr kantiges Kinn nicht, das darauf hindeutete, dass sie fest zubeißen konnte. Die Frau erinnerte Lucy an die alte Lucretia, das gemeine Bonoboweibchen, das Zeus’ Finger abgebissen hatte. Lucy wusste genau, dass Dr. Mayer ihr misstraute. Aber die Frau konnte nicht sagen warum, und das machte sie sogar noch misstrauischer. Dr. Mayer war daran gewöhnt, die Leute zu durchschauen.
»Ich habe meine Mutter sehr geliebt«, sagte Lucy, aber das war auch schon alles. Ihr fiel nichts ein, was sie sonst noch hätte erzählen können.
Dr. Mayer schwieg und schwieg. Lucy blickte auf ihre im Schoß verschränkten Hände.
»Ist
Weitere Kostenlose Bücher