Lucy
schnell wieder auf den Beinen, als hätte er eine Sprungfeder im Leib. Lucy lag auf der Matte und sah einen Moment zu ihm auf. Sie hatte sich überhaupt nicht angestrengt, dennoch atmete sie schwer, verwirrt von ihren Gefühlen. Weston streckte ihr die Hand entgegen. Lucy ergriff sie und ließ sich aufhelfen. Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber, Auge in Auge und nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Lucy spürte das Verlangen, ihn zu packen und zu Boden zu ringen, doch sie hielt sich zurück.
»Danke, Weston.«
»Okay, jetzt bist du dran.«
Sie übten weiter, und Lucy bot nur wenig Widerstand. Als die Matte schon feucht wurde von Schweiß, beendete der Trainer die Übungsstunde mit einem Pfiff und forderte sie beide auf, zum Abschluss mit den anderen draußen noch ein paar Runden zu laufen.
Lucy war schon auf dem Weg zur Tür, als Amanda ihr quer durch den Übungsraum hinterherlief und Lucy den Arm um die Schultern legte. »Das war echt absolut super, Lucy«, sagte sie.
»Danke.« Lucy ging mit ihr auf den Flur hinaus.
»Hast du Lust, noch mit zu mir nach Hause zu kommen?«, fragte Amanda.
»Ja, gern. Aber erst muss ich meine Runden laufen.« Lucy fühlte sich richtig gut, voller Kraft und Energie.
In diesem Augenblick kam die Schulpsychologin Dr. Mayer den Flur entlanggeeilt. Sie tat, als hätte sie die Mädchen nicht bemerkt, aber es war schon zu spät. Die beiden hatten gesehen, dass sie kurz zu ihnen herübergespäht hatte. Lucy und Amanda sahen sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht an, doch Dr. Mayer lief einfach wortlos weiter. Die beiden Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus.
|137| 14
Sie fuhren mit dem Bus von der Schule zu Amanda nach Hause. Es war eine laute, stinkende Fahrt, die, so fand Lucy, nur noch schrecklicher wurde dadurch, dass die Leute in dem Bus einander ignorierten. Dies war einer jener seltsamen Orte, an denen der Große Strom irritierend still war. Lucy fragte sich, warum die Leute während der Fahrt nichts taten, miteinander plaudern beispielsweise. Sie hätte zu gern gewusst, wer all diese Leute waren und wohin sie fuhren mit ihrer stummen Wut im Bauch. Aber die Leute schienen alles Interesse an den anderen, alle Neugier verloren zu haben. Eigentlich taten sie Lucy leid. Denn wer seine Neugier verlor, verlor seine Fähigkeit zu lieben.
Als sie aus dem Bus gestiegen waren, liefen sie durch ein Wohnviertel voller Häuser, die irgendwie müde wirkten. Die kleinen Fenster erschienen Lucy wie schläfrige Augen, die sich jeden Moment schließen wollten. Sogar die Bäume sahen schlapp und ungesund aus. Lucy hörte den Hund schon bellen, als sie beide noch auf Amandas Haus zugingen. Er hatte sie bereits gewittert. Als die beiden Mädchen die Stufen hinaufstiegen, begann der Hund, sich von innen wieder und wieder gegen die Tür zu werfen.
»Was zum Teufel soll denn das? Cody, sei still!«, rief Amanda und fügte an Lucy gewandt hinzu: »Was hat er bloß? Sonst bellt er nie. Cody ist echt der faulste Köter der Welt.« Als Amanda die Tür aufschloss, spürte Lucy, wie sie vor Energie geradezu zu beben begann. Sie war vorbereitet auf den Angriff, |138| der jeden Moment unausweichlich folgen würde. »Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte Amanda ihr. »Cody ist eigentlich total lieb. Ich weiß echt nicht, was mit ihm los ist.«
Aber Lucy wusste es, denn sie und Cody waren beide im Großen Strom. Sie hatten kommuniziert, einander erkannt und es als völlig natürlich akzeptiert, dass einer von ihnen beiden bei ihrer Begegnung sterben musste. Lucy spannte sich an, um sicherzustellen, dass es Cody sein würde und nicht sie.
Doch dann fiel ihr etwas ein. »Könntest du nicht …«, begann sie. »Ich habe ziemliche Angst vor Hunden. Könntest du ihn nicht irgendwo hinbringen?«
Amanda sah Lucy überrascht an. »Ja. Klar. Wart mal kurz hier.«
Amanda schaffte es kaum zur Haustür hinein, weil Cody wild entschlossen war, sich auf Lucy zu stürzen. Doch es gelang ihr, den Hund am Halsband zu schnappen und die Tür von innen hinter sich zuzuschlagen. Ein paar Minuten später kam sie zurück.
»Mann. Der wäre ja beinah durchgedreht. Komm rein. Er ist jetzt im Keller.«
Das Haus, in dem Amanda wohnte, sah ganz anders aus als Jennys. Die Zimmer waren viel kleiner und auch längst nicht so hell, und die Teppiche und Gardinen wirkten alt. Und es hingen strenge Gerüche in der Luft – nach abgestandenem Rauch, Hund und Alkohol, wie verrottete
Weitere Kostenlose Bücher