Lucy
Früchte. Amanda rannte gleich die Treppe hinauf. Lucy zögerte. Ihr Blick war auf einen großen Fernseher gefallen, der wie ein riesiges totes Auge auf ein durchgesessenes Chesterfield-Sofa starrte. Leere Pizzaschachteln und Weinflaschen standen auf dem Couchtisch herum.
»Komm schon«, rief Amanda ihr von oben zu, und Lucy |139| folgte ihr die Treppe hinauf. »Herein mit dir.« Amanda hielt am Ende des Flurs eine Tür auf. »Tut mir leid, dass hier im Haus so ein Chaos herrscht«, sagte sie und schloss die Tür hinter Lucy.
»Ist schon in Ordnung. Danke, dass du mich zu dir nach Hause eingeladen hast.«
»Das hier ist also mein Zimmer.« Mit einer ausholenden Armbewegung wies Amanda durch den Raum. »Oder besser mein Chaosreich.« Überall lagen Kleider und Schuhe verstreut, das Bett war nicht gemacht und an den Wänden hingen Poster von Schauspielern und Bands. Lucy ging durchs Zimmer und fasste hier dies und dort das an. Auf einem Klapptisch stand ein Computer und davor ein alter Schreibtischstuhl mit verschlissenem Sitz. Lucy ließ die Finger über die Tastatur gleiten, und plötzlich erwachte der Bildschirm zum Leben, über und über bedeckt mit Herzen, Blumen und Fotos, die Amanda und ihre Freunde zeigten.
»Ups, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass er an ist.«
»Das Ding ist immer an«, sagte Amanda gleichmütig. »Ohne den könnte ich gar nicht leben. Ohne den und mein Handy. Bist du schon auf Facebook? Oder YouTube?«
»Jute, wieso?« Lucy konnte an Amandas Gesicht ablesen, dass sie wohl wieder etwas Dummes gesagt hatte. »Ju-was?« Amanda brach in Gelächter aus. »Jutu? Wie hieß das noch mal? Ich glaube, ich sollte lieber den Mund halten.«
»Nein, das muss dir doch nicht leidtun. Ist schon okay. Weißt du was? Wir werden dir Urwaldprinzessin jetzt erst mal einen Schnellkurs in amerikanischer Kultur verpassen.«
»Ich komme mir so dumm vor.«
»Nein, nein. Schon okay. Hey. Du hattest da im Dschungel doch noch nicht mal Strom. Ich würde echt was drum geben, die Erfahrungen zu machen, die du so gemacht hast.«
|140| Doch Lucy kam sich dumm vor. Sie setzte sich zu Amanda aufs Bett. »Erzähl mir mal, was ich alles wissen sollte«, sagte sie und murmelte dann vor sich hin: »Ich werde mir ein Handy kaufen.«
»Okay. Also, sag schon mal nicht: ›Ich werde mir ein Handy kaufen.‹ Sag: ›Ich hol mir ein Handy.‹«
»Ich hol …?« Das klang irgendwie falsch.
»Ja, so redet man nun mal. Ich hol mir dies, ich hol mir das.« »Ich hol mir ein Handy«, probierte Lucy aus.
»Na, geht doch, siehst du? Red einfach nicht so gestelzt, das ist spießig. Sei ein bisschen lockerer, nicht immer so überkorrekt.«
»Aber das ist doch nicht das, was ich meine.«
»Doch, das ist cool«, klärte Amanda sie auf. »Oder zum Beispiel als der Trainer dich fragte, ob du mit Weston trainieren willst. Da hast du gesagt ›einverstanden‹. So was sagt kein Mensch. Man sagt: ›Geht klar!‹«
»Geht klar. Okay. Und was ist jetzt dieses, äh … Juutjuu?« Lucy wusste, dass sie es immer noch nicht richtig aussprach.
»YouTube. Komm, ich zeig’s dir.« Amanda zog einen zweiten Stuhl für Lucy heran und setzte sich vor den Computer. Dann tippte sie auf der Tastatur herum, klickte ein paarmal mit der Maus, und gleich darauf erschien in der Mitte des Bildschirms etwas, das aussah wie ein kleiner Fernseher. Darin war ein hübsches Mädchen mit blonden Locken zu sehen.
»Das Mädchen hier heißt Nathalie«, erzählte Amanda, »und wohnt in einem kleinen Dorf in Illinois. Guck mal.« Sie klickte noch einmal, und ein Video wurde abgespielt.
Es begann damit, dass das Mädchen strahlend lächelte und winkte. »Hallo, YouTube«, sagte sie dann. »Ich mache mal wieder ein Video. Super! Erst wusste ich nicht, worüber ich reden soll, aber … na ja, ich dachte, ich erzähl euch da draußen |141| einfach mal ein paar Fakten über mich.« Sie hielt kurz inne, aß eine Hand voll Choco Krispies direkt aus der Packung und sprach dann, noch kauend, weiter. »Fakt Nummer eins: Ich liebe Snowboarden.«
»Was ist Snowboarden?«, fragte Lucy.
Amanda hielt das Video an. »Hast du schon mal Schnee gesehen?«
Lucy schüttelte traurig den Kopf. Es kam ihr vor, als gäbe es da draußen noch eine ganze Welt, von der sie gar nichts wusste. Sie hatte ihr Leben lang gelernt – Mathe, Sprachen, Musik, Geschichte, Naturwissenschaften – und dennoch wusste sie gar nichts.
»Hier, ich zeig’s dir.« Wieder klickte Amanda
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