Lucy
seltsame Dinge taten. In einem hielt ein Mädchen ein Blatt Papier in die Kamera, auf das sie mit rotem Marker »Ich« gekritzelt hatte. Dann zog sie eine Grimasse und griff nach einer Schere, hielt das Papier hoch und schnitt es vor den Augen der Zuschauer entzwei.
»Was bedeutet das?«, fragte Lucy.
»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie eine von denen, die sich ritzen. Es gibt auf YouTube eine ganze Subkultur von Mädchen, die sich ritzen.«
»Sich ritzen? Du meinst, sie schneiden sich selbst?«
»Ja, ich weiß. Es ist verrückt. Ich hatte in der zehnten Klasse mal eine Freundin, die das gemacht hat. Es ist wie high werden, hat sie gesagt. Der Körper setzt wohl irgendwelche Stoffe frei, wenn man verletzt ist.«
Die Mädchen wechselten einen Blick und zuckten die Schultern. Lucy fühlte sich wohl mit Amanda. Sie schwammen gemeinsam im Großen Strom.
Amanda tippte noch einmal auf der Tastatur herum, und dann wurde auf dem Bildschirm ein Video nach dem anderen abgespielt, in denen Teenager erschienen und sagten: Ich habe herausgefunden, dass ich schwanger bin. Ich habe beschlossen, Selbstmord zu begehen. Ich habe eingesehen, dass ich magersüchtig bin. Ich habe erkannt, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Ich zweifle an meinem Glauben. Ich bin von der Schule geflogen, weil ich dauernd betrunken war. Ich habe den Ruf, eine Schlampe zu sein. Amanda erklärte Lucy, dass Unmengen von Leuten auf YouTube ein Spiel spielten, bei dem man |145| »getagged« wurde. »Wenn du ›getagged‹ wirst, musst du ein Video machen, in dem du fünf Dinge von dir erzählst, und es an fünf andere Leute schicken. Die sind dadurch dann auch ›getagged‹ und müssen ihr Video ebenfalls wieder an fünf andere schicken und immer so weiter.«
»Das heißt ja … wenn sie das Ganze nur zehnmal machen, dann erreichen sie schon fast zehn Millionen Menschen«, sagte Lucy.
»Stimmt das? Ich meine, wirklich zehn Millionen? Oder hast du dir die Zahl jetzt nur ausgedacht?«
»Nein, es ist fünf hoch zehn. Okay, 9 765 625 Menschen, um genau zu sein. Und wenn man es dann nur noch ein weiteres Mal macht, erreicht man fast fünfzig Millionen Menschen.«
»Wie hast du das denn so schnell ausgerechnet?«
»Es ist bloß, du weißt schon … Exponentialrechnung.«
»Nein, weiß ich nicht. Bist du eine Art Rechengenie oder so was?«
Lucy lachte. »Nein, ich mag nur Mathe.«
»Na, wie auch immer. Du hast recht. Das sind ganz schön viele Leute. Und wenn man etwas auf YouTube einstellt, das gut ankommt, geht’s richtig schnell. Da kannst du innerhalb von wenigen Tagen zu Millionen von Leuten sprechen. Hier, ich zeig dir noch was anderes«, sagte Amanda und suchte ein weiteres Video heraus. Darin sah Lucy ein junges Mädchen, das sich auf dem Boden wälzte, ein ums andere Mal sagte: »Ich trinke nicht« und unkontrolliert lachte. Sie versuchte mehrmals, aufzustehen, fiel aber jedes Mal wieder hin. Dann begann sie, unverständliches Zeug zu brabbeln und schließlich zu kreischen, immer verzweifelter, ihre ganze Traurigkeit brach aus ihr heraus.
»Oh, die Arme«, flüsterte Lucy. »Was fehlt ihr?«
|146| »Die ist bloß betrunken. Hinter all dem Spaß gibt’s da draußen auch jede Menge total fertige Typen.«
Ein anderes Video zeigte drei angetrunkene Mädchen in einem kleinen Pool voll dampfendem Wasser. Zwei von ihnen begannen sich zu küssen, und da verstand Lucy es: Sie wurden zu Bonobos. Denn genau das taten auch junge Bonoboweibchen, sie küssten und befummelten sich und kicherten herum. Das also war die Wirkung von Alkohol, dachte Lucy. Er versetzte die Menschen in frühere Stadien ihrer Evolutionsgeschichte zurück. In betrunkenem Zustand verhielten die Mädchen sich, als wären sie wieder im Urwald.
Im nächsten Video waren einige junge Mädchen in einer großen Toilette zu sehen, in so einer wie an der Schule, mit vielen abgetrennten Kabinen und zu grellen Lampen. Alle redeten wirr durcheinander, aber das Video konzentrierte sich auf ein Mädchen, das besonders stark torkelte und vor sich hin lallte. Sie lachte unglaublich schrill, schrie aber auch immer wieder, dass sie entsetzlich traurig sei. Es schmerzte Lucy fast körperlich, ihr zuzusehen und ihre Schreie zu hören.
Dann rannte das Mädchen plötzlich ohne jede Vorwarnung auf eine der Kabinen zu und knallte dabei so unglücklich gegen die Kante einer offen stehenden Toilettentür, dass sie zusammenbrach. Bewusstlos lag sie auf dem Boden, doch die anderen
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