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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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wie sie von ihm das bekommen konnte, was sie wollte. Also schlossen sie einen Kompromiss und begannen, im Winter und im Sommer die Sonnenwenden zu feiern, zu denen sie sich kleine, selbstgebastelte Geschenke machten. Nicht alle Mitglieder der Familie schienen fähig, sich daran zu beteiligen. Doch einige kamen mit Blumen, geflochtenen Lianen oder Früchten.
    Lucy war begeistert und entsetzt zugleich, als sie zum ersten Mal die Weihnachtszeit in Amerika erlebte. Es begann damit, dass im Herbst immer mehr gegessen wurde. Lucy und Amanda verkleideten sich zu Halloween, liefen mit den Kindern durch die Straßen und sammelten jede Menge Süßigkeiten ein. Amanda hatte Lucy vorgeschlagen, sich als Dorothy aus dem
Zauberer von Oz
zu verkleiden. (»Weil du ja auch nicht mehr in Kansas bist«, hatte sie gesagt.) Sie selbst verkleidete sich als die Gute Hexe Glinda. Noch |150| Wochen später hatten die beiden Mädchen Tüten voller Bonbons.
    Dann kam Thanksgiving. Die Geschäfte waren überall schon weihnachtlich geschmückt. Die Menschen in Amerika schienen alles gleichzeitig zu wollen und immer etwas zu übertreiben, dachte Lucy. Gemeinsam mit Amanda half sie Jenny bei der Zubereitung des traditionellen Truthahnessens, doch das Ganze schien jedes Maß verloren zu haben. Sie wusste gar nicht, wer das alles essen sollte. Jennys Mutter war auch gekommen. Lucy sah die kleine Frau mit dem nervösen Hüsteln von der Seite an und fragte sie auf einmal unvermittelt, ob sie nicht vielleicht Grandma zu ihr sagen solle, jetzt da sie Jenny ja auch Mom nannte.
    »Wag es ja nicht, mich Grandma zu nennen, junge Dame«, lautete die harsche Antwort.
    Lucy und Amanda bereiteten gerade die Süßkartoffeln vor. Harry schnippelte Karotten. »Karotten!«, rief er theatralisch. »Wer erzählt einen Witz über Karotten?« Und begann dann sogleich selbst: »Fliegen zwei Karotten durch die Luft. Sagt die eine: ›Vorsicht, ein Hub-schrapp-schrapp-schrapp   …!‹«
    »Den Witz erzählst du jedes Mal«, stöhnte Jenny.
    »Ich bin ja auch der Einzige, der ihn lustig findet.«
    Lucy sah, wie seine haselnussbraunen Augen mit einem raschen Aufblitzen Jennys suchten, und sie fragte sich, ob die beiden sich je miteinander gepaart hatten. Meistens wirkten sie einfach nur wie alte Freunde. Doch in diesen flüchtigen Blicken lagen ihre tiefen Gefühle füreinander offen zutage, jedenfalls für Lucy.
    Als schließlich alle am Tisch saßen und jeder einen mit Essen beladenen Teller vor sich hatte, fragte Lucy: »Können wir wirklich so viel essen?«
    |151| »Iss ordentlich, sonst wirst du nicht groß und stark«, sagte Mrs Lowe. »Du bist so ein kleines Ding.«
    »Oh. Ich glaube, ich werde nicht mehr viel größer. Und ich bin schon ganz schön stark.«
    »Vorlaut bist du auf jeden Fall«, gab Mrs Lowe zurück und spießte einen Rosenkohl auf.
    »Ich meinte doch nur   –«
    »Ist schon gut«, mischte Jenny sich ein. »Du hast recht, es ist alles ein bisschen reichlich. Iss nur so viel, wie du willst, Schatz.«
    Harry sah von seinem Teller auf. »Ein köstliches Festmahl! Ich dulde keine Störungen. Jeder schalte bitte sofort sein Handy auf ›Elektroschock‹. Dann stört uns kein Klingeln bei unserem Gelage, und wir können in aller Ruhe zusehen, wie der Angerufene stumm vom Stuhl sinkt.« Mrs Lowe kicherte.
    Amanda lachte ebenfalls und zwinkerte Lucy zu, und da wusste Lucy, dass alles in Ordnung war. Die Probleme ihrer Mutter hatten Amanda gelehrt, wachsam zu sein und stets alle Anzeichen zu deuten. Als Lucy Amanda zum Truthahnessen eingeladen hatte, hatte sie noch nachgeschoben: »Das heißt, falls du nicht mit deiner Mutter Thanksgiving feiern willst.« Doch Amanda hatte nur gelacht. »Oh, du würdest auch nicht mit meiner Mom die Feiertage verbringen wollen.«
    Während des Abendessens warfen Harry und Mrs Lowe Lucy immer wieder verstohlene Blicke zu, als suchten sie nach irgendwelchen Hinweisen auf etwas, das sie einfach nicht zu fassen bekamen. Als die beiden Mädchen gemeinsam den Tisch abräumten und in der Küche hantierten, sagte Harry zu Jenny: »Ihre Ohren sitzen zu hoch.«
    »Das kann man operativ beheben«, warf Mrs Lowe ein. »Tante Josie hat das bei Becky gleich mit machen lassen, als sie sich die Nase richten ließ.«
     
    |152| Am nächsten Samstagabend fuhren Amanda und Lucy nach Chicago hinein zum Weihnachtseinkauf im Loop, dem Geschäftsviertel der Stadt, und dort sah Lucy zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee.
    Lucy spürte einen

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