Lucy
man jemanden zu Boden ringt, zeigte ihr die besten Griffe, um Punkte zu machen, und wie |158| man einen Schultersieg errang. Sie musste vorsichtig sein, um ihn nicht zu verletzen, aber sie lernte mit der Zeit, ihre Kraft zu verbergen. Und schließlich lernte sie auch, all diese Fähigkeiten in Wettkämpfen mit anderen Schulen anzuwenden. Wann immer sie einen Ringer zu Boden brachte, skandierten alle: »Luu-ciie! Luu-ciie!« Der Trainer stellte jeden Goldpokal, den Lucy gewann, in der großen Vitrine bei der Turnhalle aus.
Das Ringerteam fuhr immer mit dem Bus zu den Turnieren und übernachtete in einfachen Hotels. Lucy sah viel von der umliegenden Landschaft auf diesen Fahrten, vor allem Felder über Felder mit gelben Stoppeln, auf denen im Winter Schnee lag. Jedes Mal, wenn der Bus durch einen bewaldeten Landstrich fuhr, sehnte Lucy sich danach, in den Wald eintauchen und sich durch die hohen Kronen der geliebten Bäume schwingen zu können.
Am Ende der Saison war Lucy fast ungeschlagen. Niemand konnte sich erklären, was sie in die Lage versetzte, so fähige Gegner zu bezwingen. Sie wurde von allen möglichen Zeitungen interviewt. Wenn sie gefragt wurde, wo sie ihre ungewöhnliche Behändigkeit und Kraft erworben hatte, erklärte sie es damit, dass sie als kleines Mädchen viel Bewegung gehabt habe und im Dschungel aufgewachsen sei. Schließlich startete irgendwer im Internet einen
Dschungelmädchen- Blog
, in dem ihre Ringkämpfe aufgelistet wurden. Und eines Sonntags lautete sogar eine Schlagzeile im Sportteil der ›Chicago Tribune‹: »Dschungelmädchen auf überregionalem Erfolgskurs«. Jenny zuckte zusammen, als sie das las, und dachte nur: Wenn die wüssten.
Nach einem großen Wettkampf, bei dem sie ihre erste Trophäe gewann, kam Lucy in Tränen aufgelöst zu Jenny nach Hause zurück. Jenny nahm sie in die Arme, und Lucy sagte: »Es ist alles so unfair. Das ist doch Betrug. Ich musste gegen |159| einen ihrer Ringer verlieren, nur damit es nicht so aussieht, als wäre ich ein Monster oder so was.«
Sie hatte recht. Aber Jenny wusste auch nicht, was sie tun sollten. Lucys Status als Sportass lenkte immerhin den Blick von ihrer Lebensgeschichte ab. Jenny sagte ihr, dass sie mit dem Ringen aufhören könne, wann immer sie wolle. Doch Lucy wollte ihr Team, ihren Trainer und vor allem Wes nicht enttäuschen. Außerdem hatten ihre sportlichen Erfolge auch dazu beigetragen, dass Lucy die Schulpsychologin Dr. Mayer endgültig losgeworden war. Niemand stellte Wettkampferfolge in Frage.
Eines Abends im Winter machte Jenny Feuer im Kamin, und Lucy warf das erste der orangefarbenen Notizbücher hinein. Sie sahen beide zu, wie sich das Papier wölbte, langsam verkohlte und schließlich zu Asche zerfiel. Doch dann sagte Lucy: »Ich kann das nicht tun.«
»Aber was, wenn jemand sie findet?«
»Mom, es ist alles, was mir geblieben ist. Diese Notizbücher und das eine Foto.«
»Na gut.« Jenny sah, wie sehr es Lucy zu schaffen machte. Und überhaupt, wer würde jemals nach so etwas suchen?
Während des letzten großen Turniers in Indiana hatte das Ringerteam in einem tristen Betonklotz übernachtet, einem Hotel direkt an der Abzweigung zweier Highways, auf denen die Autos zischend wie miteinander kämpfende Boas entlangrasten. Nach den Wettkämpfen hatte es noch ein großes Festessen gegeben, und dann verstreuten sich die Teilnehmer wieder in alle Winde. Weston und Lucy standen unter einem weiß schimmernden Mond draußen auf dem Parkplatz. Die Luft war kalt. Lucy hatte natürlich längst bemerkt, dass Wes nervös war und etwas auf dem Herzen hatte.
|160| »Was ist denn los, Wes?«, fragte sie. »Du willst mir doch was sagen, oder?«
»’tschuldige, Lucy, ich weiß, ich sollte solche Sachen eigentlich nicht über einen Teamkameraden denken. Aber du bist einfach so hübsch.«
»Oh, danke, Weston. Wie lieb von dir, so was zu sagen. Du siehst aber auch nicht schlecht aus.«
»Äh, danke. Okay. Dann frag ich jetzt einfach mal.« Er holte einmal tief Luft. »Lucy, willst du mit mir auf den Abschlussball gehen?«
»Aber natürlich. Ich mag dich wirklich richtig gern, Wes. Wer weiß, vielleicht paaren wir uns irgendwann sogar mal.«
Lucy sah, dass Weston knallrot anlief, und erkannte ihren Schnitzer.
»Ups, so hätte ich das besser nicht ausdrücken sollen, was?«
»Schon okay. Ich weiß ja, dass du’s nett gemeint hast.«
An einem Wochenende im April feierten sie Lucys sechzehnten Geburtstag mit
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