Lucy
Adrenalinstoß, als der Vorortzug in den dunklen Tunnel eintauchte und die gelben Lichter an ihr vorbeischwirrten. Amanda schien es gar nicht zu bemerken, sie saß in ihre Kopfhörer versunken da und hörte Musik.
Als die Mädchen in Chicago von der U-Bahn auf die State Street hinaustraten, sah Lucy Millionen glitzernder weißer Lichter den ganzen Boulevard hinauf, sogar in den Bäumen hingen sie. Es sah aus, als hätten mysteriöse Albinospinnen heimlich des Nachts ihre Netze gewebt. Die dicken Schneeflocken leuchteten, während sie um die hohen Straßenlaternen wirbelten, und Lucy hatte das Gefühl, als tauchte sie ein in eine Fantasiewelt voll weißer Spinnen, die alle um sie herum flogen und schwebten und sie wie ein Kokon umfingen.
»Probier mal, probier mal, das bringt Glück!«, rief Amanda, legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Lucy sah, wie die weißen Spinnen in Amandas Mund verschwanden, legte ebenfalls den Kopf zurück und ließ sie sich auf die Zunge fallen.
»Wie herrlich, Schnee!«
»Ja, Schnee«, erwiderte Amanda. »Wahrscheinlich mit einer guten Prise Blei und Quecksilber versetzt, nachdem er durch die Luft von Chicago gesegelt ist.«
Doch das konnte Lucy nicht erschüttern. »Wie herrlich!«, wiederholte sie.
Amanda hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich fort. »Komm mit.«
Sie schlenderten die State Street entlang und sahen sich die festlich geschmückten Schaufenster mit den altmodischen |153| Panoramabildern aus Charles Dickens’
Weihnachtslied
an, mit Scrooge, dem kleinen Tiny Tim und Marleys Geist. Aufgeregt rannte Lucy zwischen den verschiedenen leuchtenden Bildern hin und her und las die Erläuterungen zu jeder Szene laut vor.
Schließlich betraten sie eins der Kaufhäuser, und Lucy fühlte sich, als hätte sie auf stürmischer See Schiffbruch erlitten und würde inmitten der kostbaren Fracht eines riesigen gefallenen Reiches dahintreiben.
»Ist ja unglaublich!«, rief Lucy. »Bei so vielen Sachen werde ich mich niemals für irgendetwas entscheiden können.« Doch dann kamen sie an eine Glasvitrine voll wunderschöner glitzernder Steine, und Lucy sagte: »Ooh, wie wäre es mit einem von denen?«
»Nein. Es wäre nicht so passend, wenn du deiner Mutter einen Ehering kaufst. Und außerdem sind die auch viel zu teuer.«
»Ich habe mein Taschengeld dabei.«
»Nein, nein, nein.« Amanda ergriff Lucy am Arm und zog sie weiter durch das große Kaufhaus. Doch Lucy blieb immer wieder stehen und bestaunte jede glänzende Auslage, an der sie vorbeikamen.
»Zeitmesser sind gut«, sagte Lucy.
»Nein.« Amanda zog sie weiter. »Keine Uhren.«
»Einen der Teppiche dort? Die sind doch hübsch.«
»Auch nicht, viel zu groß. Und zu teuer. Komm weiter. Wir sind die Shopping-Spezialagenten. Wir gehen rein in einen Laden, erfüllen unsere Mission, und sind auch schon wieder draußen. Ich weiß schon was für dich.«
Amanda schaffte es schließlich, Lucy davon überzeugen, dass ein Pullover das ideale Geschenk sei, das eine Tochter ihrer Mutter machen könne. Als sie wieder aus dem Kaufhaus |154| kamen, war der Schneefall viel stärker geworden, und der Wind pfiff durch die Straßen. Sie rannten den ganzen Weg bis zur U-Bahn -Station zurück, auf dem Gehweg schlitternd, und eilten die Treppen in den Untergrund hinunter. Auf der Fahrt nach Hause war Lucy völlig erledigt von all der Aufregung.
Als der Zug aus dem Tunnel heraus war und wieder über der Erde fuhr, sah Amanda aus dem Fenster. Der Schneefall war so undurchdringlich, dass selbst die Straßenlaternen nur noch schemenhaft zu erkennen waren. »Wow, das sieht ja übel aus.«
»Übel?« Lucy fand es absolut märchenhaft.
»Das ist ein Blizzard.«
»Ja? Es ist wunderbar. Es erinnert mich an Dr. Schiwago.«
»Wohl eher Dr. Chicago«, witzelte Amanda.
Lucy merkte erst, was es bedeutete, in einen Blizzard zu geraten, als die beiden Mädchen sich vom Bahnhof auf den Weg nach Hause machten. Der Schnee reichte ihnen bereits bis an die Waden, das Laufen war mühsam, und sie kamen nur langsam voran. Lucy taten die Finger weh, und ihre Zehen waren taub geworden. Und ganz egal, in welche Richtung sie gingen, der Wind schien ihnen immer direkt ins Gesicht zu blasen. Die Schneeflocken waren wie Stahl. Ungefähr auf halbem Weg blieb Lucy plötzlich stehen, und Amanda drehte sich fast wütend zu ihr um.
»Geh weiter«, fuhr sie Lucy an.
»Wohin denn? Ich weiß nicht mehr, in welche Richtung.«
»Jetzt komm schon!«
Lucy
Weitere Kostenlose Bücher