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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Mädchen standen nur um sie herum und lachten. Lucy hatte großes Mitleid mit dem Mädchen, und ihr wurde klar, dass diese Menschen sich nicht nur in frühere Stadien ihrer Evolutionsgeschichte zurückbewegten. Diese Menschen waren auf dem Weg nach unten. Sie hatten zehn Millionen Jahre gebraucht, um den aufrechten Gang zu lernen, dachte Lucy. Wie unendlich traurig war es, einen solchen Niedergang mit ansehen zu müssen. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und spürte, wie ihr die Tränen kamen.
    |147| »Oh, mein Gott, Lucy. Was ist los? Was ist denn los?«, rief Amanda verwirrt.
    »Ich finde es so furchtbar, was diese Menschen da machen. Tut mir leid.«
    »Es ist doch bloß ein Video«, sagte Amanda und legte Lucy den Arm um die Schultern. »Hey.
Mir
tut’s leid, dass ich dir das gezeigt habe. Ich wollte dich nicht aufregen.«
    »Nein, es ist nur   …« Lucy wusste selbst nicht, was sie fühlte. Sie war überwältigt von Mitleid für diese Menschen. Es ging nicht nur um die betrunkenen Mädchen. Alle Menschen hier vermieden es, ihre tiefsten Gefühle auszudrücken. Wie die Leute im Bus vorhin, die nicht einmal miteinander reden konnten. Doch weil die Mädchen in dem Video so betrunken waren, hatten sie diese Hemmung verloren und sandten die wahre Botschaft dieser   … dieser   … dieser ganzen Welt hier, und Lucy fragte sich zum ersten Mal: In was bin ich hier hineingeraten? Kann ich in dieser Welt überleben?
    Sie nahm die Hände wieder vom Gesicht und las auf dem Bildschirm, dass das Video mit dem betrunkenen Mädchen, das gegen eine Toilettentür gerannt war, von fast einer Million Leuten angeschaut worden war. »Warum wollen so viele Menschen andere in solchem Elend sehen?«
    »Keine Ahnung«, sagte Amanda. »Na ja, dann fühlt man sich nicht so allein, glaube ich. Aber es ist irgendwie abartig, ich weiß.« Eine Zeit lang saßen sie nur schweigend da. Bis Amanda schließlich sagte: »Meine Mutter trinkt.«
    Lucy wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte noch nicht oft Betrunkene gesehen, nur die wenigen Male, wenn in dem kleinen Dorf im Kongo Denis und sein Clan gefeiert hatten. »Das tut mir wirklich leid.«
    »Sie ist okay. Ich meine, sie hat einen Job und so. Aber mein Dad hat sie wegen ihrer Trinkerei verlassen. Er ist Investmentbanker |148| in New York City und gibt mir auch Geld. Aber ich sorge hier so ziemlich für mich selbst.«
    »Das scheint dir ganz gut zu gelingen. Du bist im Großen Strom.«
    »Im Großen Strom? Was ist das denn?«
    Lucy dachte einen Augenblick nach. »Na ja, im Grunde so was Ähnliches wie YouTube, glaube ich. Im Dschungel muss man auch für sich selbst sorgen. Man hat zwar Familie und Leute, die sich um einen kümmern. Aber es ist so gefährlich, man ist wirklich auf sich allein gestellt. Man muss immer auf der Hut sein. Deshalb kommunizieren alle auf dieselbe Weise wie die Tiere, über eine Art besonderen Kanal, eben den Großen Strom.«
    »Der Große Strom«, wiederholte Amanda. »Hab ich noch nie gehört.«
    »Aber du kennst doch sicher das Gefühl, dass man manchmal jemanden trifft, der einem sofort sympathisch ist? Oder dass man jemanden von der ersten Sekunde an nicht leiden kann?«
    »Klar, entweder stimmt die Chemie zwischen zwei Leuten, oder sie stimmt nicht.«
    »Ja. Und du hast bestimmt auch schon mal gehört, dass Tiere fliehen, bevor ein Erdbeben stattfindet?«
    »Klar, hab ich schon gehört.« Amanda dachte kurz nach, dann nickte sie lächelnd. »Ja. Ja, du hast vermutlich recht. Aber wo gerade vom Großen Strom die Rede ist, ich muss dringend aufs Klo!«
    Sie fingen beide an zu kichern, und dann konnten sie einfach nicht mehr aufhören. Amanda schüttelte sich schon vor Lachen, da rief sie plötzlich: »Hör auf! Oh, mein Gott, hör auf! Ich mach mir gleich in die Hose!« Und damit sprang sie auf und rannte ins Badezimmer.

|149| 15
    Lucy und ihr Vater hatten nie Thanksgiving oder Weihnachten gefeiert. Sie hatte nur bei Charles Dickens von Weihnachten gelesen. Als sie ihren Vater danach fragte, sagte er, dass es ein religiöser Feiertag sei und dass Religion einer der Gründe für die Probleme auf der Welt sei, und hielt ihr einen längeren Vortrag über die Intoleranz und ihre Folgen. Doch damals war Lucy noch ein Kind gewesen. Das alles hatte sie nicht interessiert, sie wollte Geschenke haben.
    »Wir feiern doch Geburtstag«, sagte ihr Vater. »Wir schenken uns dann etwas.« Aber ihr Vater hatte ein weiches Herz, und Lucy wusste genau,

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