Lucy
abgeschlossen, und Lucy wirkte wie die Normalität in Person. Das war alles, was Jenny sich für sie gewünscht hatte.
Amanda hatte Lucy geholfen, sich im Internet die College-Programme anzusehen. Ihre Noten bei den Aufnahmeprüfungen fielen gut aus, und im April hatten beide Mädchen Zusagen von einem halben Dutzend Colleges. Doch Lucy wollte in Chicago auf Jennys College gehen und weiter zu Hause wohnen. Sie drückte es so aus: »Mom, ich kann doch überall dasselbe lernen. Ich meine, überleg mal, was ich im Dschungel alles gelernt habe. Ich möchte bei dir bleiben.«
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Die Mädchen waren so aufgeregt, dass sie gar nicht zur Ruhe kamen. Sie lagen zusammen im Bett und redeten noch stundenlang miteinander, froh und erleichtert, dass sie die Schule abgeschlossen hatten. Als sie sich schließlich aneinanderkuschelten und versuchten einzuschlafen, lehnte Amanda sich an Lucys Schulter und atmete tief ein.
»Du riechst so ganz anders als alle anderen. Aber gut. Irgendwie nach Wald.«
»Das liegt daran, dass ich das Dschungelmädchen bin.«
»Meine anderen Freundinnen glauben alle, dass ich sie deinetwegen fallen gelassen habe.«
»Oh, das tut mir leid. Du solltest vielleicht öfter was mit ihnen unternehmen.«
»Nein. Mir gefällt’s so, wie es ist. Sie sind einfach nicht mehr so interessant, seit ich dich kenne. Matt hat mich schon gefragt, ob wir beide Lesben sind.«
Lucy durchlief ein wohliger Schauer, als Amanda so nahe neben ihr lag. So hatte sie sich immer gefühlt, wenn sie mit ihren Brüdern und Schwestern spielte. Doch das hier ging tiefer. Lucy wusste nicht, wie sie Amanda gegenüber dieses Thema anschneiden sollte, deshalb sagte sie bloß: »Schlaf jetzt.« Und noch ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, war sie selbst auch schon eingeschlafen.
Früh am nächsten Morgen, die Mädchen gähnten noch, steuerte Jenny das Auto auf den Highway. Amanda hatte jede Menge CDs für den C D-Player des Autos dabei, und die Mädchen |165| wippten, so gut es im Sitzen ging, im Takt der Musik. Auch Jenny machte mit und wiegte sich im Takt hin und her. Sie fuhren den ganzen Tag. »Lucy«, sagte Jenny, »wir müssen zusehen, dass du Fahren übst. Dann könnten wir uns abwechseln, und ich könnte zwischendurch ein bisschen schlafen.«
»Ich habe doch jetzt den Führerschein.«
»Ja, aber mir ist nicht ganz wohl, wenn du fährst.«
»Soll ich mal fahren?«, fragte Amanda.
»Das wäre großartig.«
Amanda übernahm das Steuer, so dass Jenny auf dem Beifahrersitz etwas dösen konnte, während Lucy auf der Rückbank schlief. Sie waren noch südlich von Duluth, als die Nacht hereinbrach, und so übernachteten sie in einer kleinen Stadt namens Superior. Am nächsten Vormittag hielten sie in Duluth an einem Supermarkt und kauften Vorräte für eine Woche ein.
Sie fuhren die nördliche Küste des Lake Superior entlang, vorbei an bizarren Felsformationen aus orangefarbenem Basalt- und Gabbrogestein, an denen sich die Wellen brachen und sechs Meter in die Höhe spritzten. Eine Stunde später erreichten sie den uralten Wald, und Amanda konnte den Blick gar nicht mehr vom Fenster lösen. »Oh, hier sieht’s ja aus wie im Märchenwald von Hänsel und Gretel«, rief sie. Dies war Jennys Geschenk zum Schulabschluss für die beiden Mädchen: eine Reise ins Naturschutzgebiet Boundary Waters. Harry hätte eigentlich auch mitkommen sollen, doch er hatte Bereitschaftsdienst im Krankenhaus.
Kurz darauf stand Jenny in der Küche und packte die Lebensmittel aus, während Lucy mit Amanda durch die Hütte rannte und ihr alles zeigte. »Das ist hier ja wie in ›Unsere kleine Farm‹!«, rief Amanda, und weil Lucy sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »Ist eine alte Fernsehserie.«
|166| »Mom, dürfen wir dieses Schlafzimmer hier haben?«
»Nehmt das, das euch am besten gefällt, Mädchen.«
Die ersten Tage verbrachten Amanda und Lucy in seliger Faulenzerei, während Jenny Holz hackte und auf dem See paddelte. In den langen gelben Sonnenstrahlen des Nachmittags lag Jenny dann am Ufer und las, während Amanda und Lucy im Wasser herumtollten oder den Wald erkundeten. Wenn Jenny gegen Abend am Strand ein Lagerfeuer machte, fuhren die Mädchen in der Dämmerung noch mit dem Kanu hinaus. Sie paddelten bis auf die andere Seite des Sees hinüber, unter einem fahlen Mond, der für seine Reise durch die Nacht erst noch an Leuchtkraft gewinnen musste. In einer kleinen Bucht machten sie halt und angelten. Als sie einen
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