Lucy
Amanda und einigen anderen Freunden aus der Schule. Die Temperatur stieg auf fast zwanzig Grad, und es wehte ein milder Wind. Die warme Luft, das satte Grün der noch kaum geöffneten Blätter und ein frischer Duft kündigten triumphierend den Frühling an. Lucy und die anderen trugen schon Shorts und tummelten sich draußen vor dem Haus auf dem Rasen.
Harry hatte eigenhändig Pizza für alle gebacken, und Jenny steuerte Vitamine im Form eines Salats bei. Jetzt sahen sie zu, wie die Kids, die nun schon beinahe Erwachsene waren, lachten und schwatzten, während aus den offenen Fenstern des Hauses laute Musik hinausdröhnte. Amandas Freund, Matt, warf Lucy einen Football zu. Mit der Eleganz eines Tieres und unglaublich langen Armen hatte er ihn hoch in den |161| strahlenden Aprilhimmel katapultiert. Doch ganz egal, wie er den Football warf, Lucy war zur Stelle, wenn er wieder herunterkam. Jenny warf Harry einen Blick zu und sah, wie er gedankenverloren vor sich hin lächelte.
Er schüttelte den Kopf. »Wie macht sie das nur?«, fragte er und rief dann hinaus: »Weiter so, Lucy!«
Lucy drehte sich um und strahlte ihn an, ehe sie einen weiteren von Matts Pässen parierte.
Jenny sah die Zuneigung in Harrys Augen. Ich sollte es ihm wirklich erzählen, dachte sie nicht zum ersten Mal. Gerade und vor allem ihm. Harry würde es vollkommen verstehen. Ihn und Lucy verband wirkliche Freundschaft. Lucy lebte auf, wann immer Harry sie mit diesen intensiven Augen ansah. Harry würde Lucy nur noch mehr lieben, wenn er die Wahrheit kannte. Und das Geheimnis wäre auf ewig sicher verwahrt bei ihm.
An einem warmen, regnerischen Tag im Mai backte Jenny für Lucy einen Kuchen und schrieb mit Zuckerguss »Alles Gute zum Muttertag, Leda« obendrauf. Er wartete schon auf sie, als Lucy, die unerwarteterweise Amanda mitgebracht hatte, aus der Schule kam. Lucy kamen die Tränen und sie umarmte Jenny fest, als sie den Kuchen entdeckte.
»Was bedeutet das?«, fragte Amanda. »Wer ist Leda?«
»Meine Mutter.«
»Oh, entschuldige. Ich sollte euch lieber allein lassen.«
»Nein, geh doch nicht«, bat Lucy.
»Bleib zum Abendessen«, sagte Jenny.
»Nein, nein. Ich sollte lieber nach Hause gehen zu meiner Mutter.« Aber Jenny und Lucy sahen beide, wie traurig sie geworden war; und Jenny dachte: Amanda sollte ich es auch erzählen. Oder vielleicht sollte Lucy es ihr selbst erzählen. |162| Dieses liebe Mädchen war Lucys beste Freundin, aber das Wichtigste über Lucy wusste sie nicht. Doch wo würde das alles enden? Wo wollten sie die Grenze ziehen? Jenny wurde allmählich immer klarer, dass die Notwendigkeit, Lucys Geheimnis zu wahren, sie beide gerade von den Menschen trennte, die sie am meisten liebten. Nachdem Amanda gegangen war, setzten sich Lucy und Jenny recht still zum Abendessen und gingen bald zu Bett.
Dennoch, sie waren gut durchgekommen bis jetzt. Als sich das Schuljahr dem Ende zuneigte, hatte Jenny schon fast das Gefühl, sie hätten ihr Ziel erreicht. Niemand kannte ihr Geheimnis, und es schien unmöglich, dass irgendwer es herausfinden würde. Jenny war es gelungen, ein schützendes Netz um Lucy zu weben, das auch die hartnäckigsten Wichtigtuer und Unheilstifter abzuwehren vermochte.
Lucy und Amanda waren unzertrennlich geworden, und Amanda übernachtete fast jedes Wochenende bei ihnen. Jenny kochte meist einen großen Topf Gemüsesuppe oder machte Eintopf für die Mädchen. Manchmal kam auch Harry und grillte Fisch und Gemüse draußen auf der Terrasse. Sie aßen zusammen und sahen sich danach oft noch einen Spielfilm an oder spielten Scrabble. Amanda war im Schachteam der Highschool und brachte Lucy das Spiel bei. Manchmal spielten die beiden bis spät in den Abend hinein, und Jenny hörte noch im Bett, wie sie auf die Zeituhr schlugen, kicherten und übten, auf Französisch zu fluchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Jenny sich zu Hause richtig wohl. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie Lucy ohne Amanda zurechtgekommen wäre. Vor einiger Zeit hatte sie eine Schachtel Tampons in Lucys Badezimmer entdeckt und erkennen müssen, dass sie eine ihrer wichtigsten Aufgaben in Lucys Erziehung versäumt hatte. Dem Himmel sei Dank für Amanda, dachte sie.
|163| Als Jenny am Ende des Schuljahrs in der großen Aula saß und die Schüler des Abschlussjahrgangs mit ihren quastengeschmückten Baretten an ihr vorbeiflanierten, seufzte sie erleichtert auf. Die Mädchen hatten die Schule beide mit Auszeichnung
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