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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Lucy öffnete den Beutel, bediente sich und |169| hielt ihn Amanda hin, die sich ebenfalls eine Weintraube in den Mund steckte.
    Spät am Abend lagen die Mädchen auf dem Rücken im Gras und betrachteten die Sterne. In diesem Augenblick vermisste Lucy ihre Heimat schrecklich. Die meisten Menschen, die sie kannte, sahen den Dschungel im Kongo nur als eine riesige feuchte Falle voller Malariamoskitos. Doch für Lucy war der Wald dort ihr Zuhause. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, das Wetter zu erkennen, das eine reiche Pilzernte und Schwärme köstlicher Termiten mit sich brachte. Sie lernte von ihm, wie man Kletterpflanzen bis zu ihren schmackhaften Wurzeln folgte und wie man das schwache Insektensummen erkannte, das zum Honig führte. Der Wald gab ihnen all das freigebig und in reicher Fülle. Und wenn der Wald mit einem fertig war, dann ließ er einen sterben und verteilte die Überreste unter den anderen Lebewesen, die es nicht weniger verdient hatten. So hatte ihr Vater es ihr beigebracht.
    Aber er hatte auch gesagt, dass die Menschen all das schon vor langer Zeit vergessen hatten. Der Wald war ihnen immer feindlicher erschienen, undurchdringlich, ja sogar böse. Sie hatten ihn geschlagen, abgeholzt, brandgerodet. Sie hatten den Wald verleumdet, waren heimatlos geworden und doch immer voller Sehnsucht geblieben, geplagt von einem unbewussten Verlangen, in die reiche, sanfte Fülle des Waldes zurückzukehren. Jetzt fragte Lucy sich, ob sie all das überhaupt noch glaubte. Dies waren die Gedanken ihres Vaters gewesen, und nicht ihre eigenen. Was glaubte sie selbst eigentlich?
    »Ich muss langsam echt schlafen«, sagte Amanda.
    Lucy stand vom Waldboden auf. Mittlerweile schien der Mond schon hell vom Himmel herab und erleuchtete ihren Weg. Sie fasste Amanda bei der Hand und führte sie tiefer in den Wald. »Weil du dir so viel Zeit genommen hast«, sagte sie, |170| »mir deine Kultur zu erklären, werde ich dir jetzt einen Trick aus dem Dschungel zeigen.«
    Lucy kletterte so schnell auf einen Baum hinauf, dass Amanda ihr nur noch hinterrufen konnte: »Mensch, du bist ja echt total das Dschungelmädchen. Wie hast du das gemacht?«
    »Komm rauf.«
    »Warum das denn?«
    »Wir werden hier oben schlafen.«
    »Spinnst du?«
    Nach einiger Zeit hatte Lucy Amanda aber doch überredet, auch auf den Baum zu kommen. Mit großer Mühe begann Amanda zu klettern und fluchte unablässig vor sich hin. »Scheiße, danach kann ich mir erst mal die Fingernägel wieder machen lassen.« Lucy dirigierte sie von einem kräftigen Ast zum nächsten. Als Amanda nahe genug war, packte Lucy sie beim Handgelenk und zog sie zu sich herauf.
    »Ach du Scheiße. Okay, das ist
echt
hoch hier. Was machen wir jetzt?«
    »Jetzt mache ich dir ein Bett«, sagte Lucy und begann, Zweige abzubrechen und zusammenzuwinden.
    »Ist ja krass! Wie machst du das?«
    »Das ist alles Übungssache.« Lucy baute ihr eigenes Nest so dicht neben Amandas, dass sie sich noch unterhalten konnten.
    »Hast du im Dschungel so geschlafen?«
    »Ja. Manchmal aber auch in einem Bett.«
    »Was haben denn deine Eltern dazu gesagt?«
    »Na ja, meine Mutter hat mit mir zusammen geschlafen.«
    »Auf dem Baum?«
    »Ja, sie hat es mir beigebracht.«
    »Was? War sie etwa eine Eingeborene oder so was?«
    »Ja, so was in der Art.«
    »Wow.«
    |171| In diesem Augenblick empfand Lucy wieder den gleichen inneren Drang, den sie empfunden hatte, als Amanda so nahe bei ihr im Bett gelegen hatte, und am liebsten hätte sie die Wahrheit diesmal einfach hervorgestoßen. Hier umfing sie die ungeheure Weite dieses uralten Waldes, ihr gemeinsames Alleinsein, und es wäre der ideale Zeitpunkt, um über alles zu reden. Amanda hatte bisher ja nicht die leiseste Ahnung, wer sie wirklich war. Lucy wollte sich auflehnen, wollte das, was sie war, rechtmäßig einklagen und offen zugeben dürfen. Es verlangte sie so sehr danach, Amanda die Wahrheit zu sagen.
    »Und was war mit deinem Dad?«, setzte Amanda das Gespräch von eben fort. Sie schien nicht einmal zu ahnen, welche bedeutsame Enthüllung kurz bevorstand.
    »Er hat in unserer Hütte geschlafen.« Lucys Stimme klang ausdruckslos und trocken. Worum geht es im Leben denn, fragte sie sich, wenn nicht um einen solchen Augenblick, eine solche Freundin, einen solchen Zeitpunkt? Sie musste es jetzt einfach sagen.
    »Und deine Mom und du, ihr habt dann   … was gemacht? Etwa gesagt: ›Gute Nacht, Pa, wir gehen dann mal auf den Baum‹?«
    »Ja, mehr oder

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