Luderplatz: Roman (German Edition)
endlich sagen würde: »Vergessen Sie es! Man wird ihn niemals finden. Irgendein Kinderficker hat ihn umgebracht.«
Als sie eine Stunde später unter ihrer Dusche stand, als das Shampoo in ihren Haaren schäumte, das Duschgel die Spuren der letzten Nacht beseitigte, fühlte Viktoria Latell sich immer noch dreckig.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, wickelte sie sich in ihre Bettdecke und löschte seine letzte SMS . Als Kai Westmarks »Na?«, das er ihr vor genau drei Monaten geschickte hatte und auf das sie nie geantwortet hatte, für immer verschwand, ging es ihr besser.
Sie konnte endlich weinen.
15. Kapitel
Lukas Adams mochte die Grabstätte. Weil sie so fröhlich wirkte. Gar nicht bedrückend oder düster. Während er das Leben und die Menschen oft als kompliziert und undurchschaubar empfand, erschien ihm der Friedhof als eine unkomplizierte Sache. Hier war alles ganz einfach. Hier gab es nur die Toten und die Trauernden. Nana war auf Staatskosten in einem anonymen Grab auf dem Friedhof Lauheide beerdigt worden. Lukas hätte das Geld nicht aufbringen können, und Verwandte gab es keine. Er kam einmal die Woche her und setzte sich auf eine der Bänke, die neben den schön drapierten Steinen zum Gedenken einluden. Und er gedachte. Ihr, ihrer Liebe und der Geheimnisse, die sie mit ins Grab genommen hatte.
Die Polizei wusste immer noch nicht alles. Sie wusste ja sogar weniger als er. Anfangs hatten sie Kai Westmark in Verdacht gehabt, doch sie ließen ihn gehen.
Er selbst musste jemand anderen gehen lassen. Nana. Es wurde Zeit. Das wusste er schon lange. Doch ein bisschen wollte er sie noch bei sich haben, ein bisschen wollte er noch bleiben. Es war warm an diesem Junitag. Er beobachtete einen Zitronenfalter. Er flatterte kreuz und quer über die Wiese mit den Gräbern – federleicht wie eine Seele, wunderschön wie Nana.
Der Schmetterling verschwand, flog weiter, suchte sich neue Gräber, neue Tote, neue Trauernde, die ihm nachschauten.
Nana Oppenkamp, dachte Lukas, du bist schuld. Hättest du mich wirklich und wahrhaftig geliebt – wir könnten ihm jetzt nachjagen. Zusammen, lachend, lebendig.
Es gab schlechtere Außentermine. Viktoria und Mario standen am Reichstagsufer, den Reichstag im Rücken, die Spree vor sich und die Sonne über ihren Häuptern. Das Ufer war weiträumig abgesperrt. Polizisten scheuchten die neugierigen Touristen weiter. Es gestaltete sich äußerst schwierig, die Schaulustigen in ihrer Sensationsgier zu bremsen, denn hier war eindeutig etwas Spannendes im Gange. Etwas, was sie nachher ihren Liebsten daheim erzählen konnten und was besser war als jedes Berliner-Bärchen-Mitbringsel. Viktoria gähnte und schob sich ihre XXL -Sonnenbrille auf die Nase. Mario fotografierte die Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, die Polizeiwagen, die Taucher, die ab und zu an die Wasseroberfläche kamen und Handzeichen machten.
Leichenfund hatte es im Polizeifunk geheißen, den eine zwielichtige Agentur im Auftrag des Express regelmäßig auf zeitungstaugliche Geschichten abhörte. Der Chefredakteur hatte sie losgeschickt, weil sonst nichts los war.
»Wenn es wieder nur ein besoffener Penner ist, vergessen Sie die Sache«, gab er ihnen noch mit auf den Weg.
Niemand erwartete also etwas. Auch Viktoria nicht. Große Erwartungen waren ohnehin nicht ihr Ding. Nicht mehr.
Sie und Mario hatten einen ganz guten Platz. Sie waren zwar relativ weit weg, konnten aber von ihrem erhöhten Standort aus alles überblicken.
Viktoria kramte in ihrer Tasche und zog eine Kaugummipackung heraus. Sie war leer. »Shit«, fluchte sie und ließ das platte Papier zurück in die Tasche fallen. Dann suchte sie nach Ersatz. »Ah, geht doch!«, sagte sie schließlich und steckte sich den ultrafrischen Kaugummi in den Mund. Gleichzeitig tat sich unten am Wasser etwas.
Die Wasserleiche wurde geborgen. Ein Raunen ging durch die Menge der Schaulustigen. Dann war es still. Das, was sie sahen, brachte sie zum Schweigen. Eine aufgequollene, unförmige, kaum noch menschlich aussehende Gestalt lag in einem schwarzen Gitternetz, das zwei Taucher vorsichtig ans Ufer zogen, an dem der Rettungswagen wartete.
Was für ein Hohn, dachte Viktoria. Hier würde niemand mehr gerettet werden. Sie atmete durch den Mund, denn sie wusste, dass Wasserleichen sogar über große Entfernungen hinweg einen schrecklichen Geruch verbreiteten. Jetzt bei diesen Temperaturen war es am schlimmsten.
»Stell dir vor, du kochst ein Hühnchen und lässt es
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