Luderplatz: Roman (German Edition)
paar Bilder von den Eltern machen. Die nickten, schauten in die Kamera und wandten sich dann wieder Viktoria zu.
Isabella Jahnke, die große Schwester von Florian, hatte ihren Bruder an jenem kalten Januartag vor fünfeinhalb Jahren überredet, nach dem Training nicht nach Hause zu kommen. Sie wollte alleine sein. Oder besser: zu zweit sein. Sie hatte sich mit einem Fotografen verabredet, i n den sie sich ernsthaft verliebt und den sie nach Hause eingeladen hatte. Ihre Eltern waren auf einer Eigentümerversammlung der Hausgemeinschaft, die mindestens bis 21.30 Uhr gehen sollte. Also sagte sie ihrem Bruder, er solle um 18.03 Uhr in den Bus, der vor der Turnhalle hielt, steigen und bis zum Kaufhaus Dussmann fahren. Dort würde sein Idol, Gordon Bales, der berühmte Basketballstar aus den USA , Autogramme geben und sein neues Buch vorstellen. Sie gab ihm Geld für das Buch und bat ihn, dass er nicht vor 21 Uhr zu Hause sein sollte.
Als er nicht kam und seine Eltern bei ihrer ersten – noch hoffnungsvollen – Suche einen Handschuh von ihm fanden und deshalb fest davon überzeugt waren, dass er ihn auf dem Heimweg verloren hatte, sagte sie ihnen nicht die Wahrheit. Sie ließ den zweiten Handschuh, der zu Hause lag und dessen Gegenstück er schon vor ein paar Tagen verloren haben musste, in ihrer Unterwäscheschublade verschwinden und warf ihn später in den Müll.
Dann versank sie in eine Art Starre. Sie schwieg. Während überall nach ihrem Bruder gesucht wurde, während ihre Eltern weinten und nachts jaulten wie Hunde, die zu Tode geprügelt wurden, weil der Schmerz so groß war, ihn immer noch nicht gefunden zu haben. Sie schwieg. Und sie ging.
Sie nahm ein Jobangebot in den Niederlanden an, das sie eigentlich schon ablehnen wollte. Sie hatte es ein paar Wochen zuvor im Internet entdeckt. Ein Schwertransportunternehmen suchte eine Bürokraft, die Deutsch und Niederländisch sprach. Isabella liebte Sprachen, und sie mochte das Niederländische, von dem sie ein paar Brocken in der Sprach- AG ihrer Schule gelernt hatte.
Nur drei Wochen nach Florians Verschwinden unterschrieb sie den Mietvertrag für ein Apartment in En schede. Vier Wochen nach Florians Verschwinden traf sie sich zum ersten Mal mit Wiliam Joss, dem Chef des gerade neu gegründeten Unternehmens auf ein Bier. Er wusste nichts von ihrem kleinen Bruder. Er ahnte nichts von ihrer Schuld. Und er verliebte sich in die rothaarige Berlinerin.
Aus Isabella war Isa geworden, und Isa sprach mit niemandem über ihre Schuld, über ihr schweres Gewissen, über ihre Familie. Erst als ihr eigenes Kind geboren wurde, als sie Angst um den Jungen hatte, wusste sie, dass sie etwas tun musste.
»Kennen Sie Facebook?« Florians Vater war offensichtlich stolz darauf, dass er es kannte.
Viktoria nickte. »Klar.« Ihr war ganz schwindelig, weil sie nicht begriff, worauf die Jahnkes hinauswollten.
»Na, da hat Isabella Ihren Kollegen gefunden.«
»Meinen Kollegen?« Viktoria verstand es immer noch nicht.
»Herr Siewers. Der ist auch bei Facebook.«
»Mario? Ihre Tochter war an jenem Abend mit Mario verabredet?« Viktoria schaute Meike an, die genauso überrascht schien.
Christoph Jahnke nickte. »Vielleicht war es eine Eingebung, vielleicht Zufall, vielleicht eine gute Idee. Auf jeden Fall fand Bella ihn – in diesem Facebook-Dingens.«
Viktoria musste sich konzentrieren, um ihm weiter zuhören zu können, doch sie riss sich zusammen.
Über Marios Facebookeinträge erfuhr Isabella, dass er, der Schützenkönig von Westbevern, in Westfalen war. Auf Tour mit Victory. Eine Geschichte mit ihr machen. So hatte er es formuliert. Launig und lustig – für seine Freunde im Netz.
Sie hatte kapiert, dass Victory nur Viktoria Latell sein konnte, die Reporterin, die jahrelang über ihren vermissten Bruder geschrieben und offensichtlich nie aufgegeben hatte, nach ihm zu suchen. Und sie begriff, dass sie jetzt die Möglichkeit hatte, etwas zu tun. Zu handeln. Einen wichtigen Hinweis weiterzugeben. Denn die Reporter waren gar nicht weit weg. Zwischen der Uniklinik Münster, in der sie mit ihren Frühwehen und all ihren Sorgen lag, und dem kleinen Westbevern lagen nur zwanzig Kilometer. Doch Isabella war immer noch feige. Sie wollte nicht mit der Reporterin sprechen, wollte nicht offen zugeben, was sie fünf Jahre lang geheim gehalten hatte. Dann hatte sie die Idee mit dem Geocaching. Als sie auf die Internetseite ging und herausfand, dass in Westbevern tatsächlich ein Schatz
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