Luderplatz: Roman (German Edition)
die feuchte Luft ein, ihm war schlecht. Speiübel. Am liebsten würde er kotzen. Auf die Blumen vor seinem Praxisfenster. Ja, dann hätten sie was zu reden. Seine Patienten. Seine Nachbarn. Ganz Westbevern hätte etwas zu reden. Aber das hatten sie auch so. Die Polizei beim Doktor, so was passierte hier auch nicht jeden Tag. Kai lehnte sich an den Fensterrahmen, kühlte seine Stirn am Glas und versuchte, nicht mehr an das Aftershave und den Schweiß der Beamten zu denken. Oder war es sein Schweiß, der so roch? Er hatte gespürt, wie sich Pfützen unter seinen Achseln gebildet hatten, als sie ihn befragten. Zum Glück hatte er seinen Kittel an, der die Flecken im T-Shirt verbarg.
Sie hatten ihn nach Nana befragt. Schon wieder. Es war, als wäre keine Zeit vergangen, seit damals. Es war, als hätte sie ihn wieder in ihren Krallen. Und er strampelte wieder um sein Leben.
»Dr. Westmark?« Die Arzthelferin lugte herein. »Kann ich den nächsten Patienten schicken?«
»Sicher.« Ruhig bleiben, ermahnte er sich selbst. Ruhig bleiben. Er schloss das Fenster .
Sie wollten wissen, ob er noch Kontakt zu Nana Oppenkamp gehabt hätte – kurz vor ihrem Tod. Wann er sie zuletzt gesehen hätte. Ob es stimme, dass sie und er einmal ein Paar gewesen waren, wann das gewesen war. Wie sie sich getrennt hätten – und natürlich fragten sie ihn auch nach der Vergewaltigung. Obwohl die Anzeige fallengelassen worden war. Sie fragten ihn nach Nana Oppenkamps Blutergüssen, nach ihren Würgemalen, ihrer zerfetzten Kleidung.
Er wollte nichts mehr davon hören, gar nichts. Er schloss die Augen und sah seinen Vater vor sich. Wie er vor ihm stand, wie versteinert, groß, übergroß.
»Junge, hast du mir etwas zu sagen?«
Kai Westmark fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, über das Gesicht. Am liebsten hätte er den Spiegel zerschlagen, am liebsten hätte er es herausgeschrien. Sollten es doch alles sehen und hören: Nana Oppenkamp war schon tot für ihn, bevor sie starb.
Die Tür öffnete sich. Der nächste Patient. Kai Westmark reichte ihm die Hand.
14. Kapitel
Als sie auf seinem Klo saß und den schiefen Stapel mit den Playboy -Heften neben sich, die ungewaschenen Socken unter dem zahnpastaverklebten Waschbecken und die Tube mit der Enthaarungscreme für Männer auf dem Wannenrand betrachtete, war ihr klar, dass sie nicht viel tiefer sinken konnte. Nicht mal schlecht war ihr, dabei hatte sie mehr als fünf Averna-Cola getrunken. Kein gutes – kein gesundes – Zeichen. Sie griff nach der Klorolle, deren Papier vom Duschwasser wellig geworden war, und spülte ab. Es war drei Uhr in der Nacht. Sie hockte sich auf den Wannenrand.
Ficktoria. So hatten einige besonders witzige Schulkameraden sie früher genannt. Wenn sie sie jetzt sehen könnten, sie hätten ihren Spaß. Oder sie wären beeindruckt. Patrick war Anfang zwanzig, durchtrainiert, clever und komplett enthaart. Viktoria nahm die grüne Tube in die Hand und öffnete sie. Die Enthaarungscreme roch nach Minze. Auch Patrick roch nach Minze und nach Hugo Boss. Und Patrick versuchte, so zu sein wie die Models aus der Hugo-Boss-Werbung. Schön. Cool. Schön cool.
Sie kam sich mies vor. Nicht nur jetzt, auch vorher schon. Als sie seine Zunge in ihren Mund ließ, als sie in sein Bett stieg, als sie ihm zuschaute, wie er sich abrackerte, wie er seinen hübschen Körper mit ihrem Körper zu einer ästhetischen Gesamtheit vereinen wollte. Sie hätte es nicht tun sollen. Volontäre flachlegen. Das war doch eigentlich ein Job für die anderen.
Sie blieb sitzen. Wäre ihr doch wenigstens übel gewesen, dann hätte es gepasst. Zu ihr. Zu diesem Tag. Es war der 15. Ja nuar. Der Tag, an dem Florian nach dem Basketballtraining verschwand, er jährte sich wieder. Viktoria hielt kurz ihre Hände und Unterarme unter das kalte Wasser. Ihre Augenwinkel waren von Wimperntusche verklebt, sie wusch sich das Gesicht, Reste der schwarzen Farbe hielten sich hartnäckig unter ihren Wimpern. Anschließend öffnete sie die Tür zu seinem Flur, die Tür zu seinem Zimmer. Er lag auf dem Rücken. Der enthaarte Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig.
Leise schloss sie die Schlafzimmertür wieder und verschwand. Sie würde kneifen. Sie wollte nicht mit Florians Eltern sprechen. Sie würde sich krankmelden und Patrick für den Job vorschlagen. Er war gut. Er war unverbraucht. Er würde ihnen in die Augen sehen können, er würde ihre Hoffnung teilen, er würde nicht sagen, was sie ihnen
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