Luderplatz: Roman (German Edition)
war die Stimme von Christoph Jahnke, Florians Vater, die aus der Gegensprechanlage ertönte.
»Latell hier.«
Der Summer ging, sie musste ihn nicht einmal überreden. Warum ließ er sie rein?, fragte sie sich. Sie wäre gerne unverrichteter Dinge wieder in die Redaktion gefahren.
»Sie wollen mit niemandem sprechen«, hätte sie gesagt. Doch der Chef wäre durchgedreht. Noch hatte der Express einen Vorsprung vor der Konkurrenz. Und den sollte sie gnadenlos ausnutzen. Wenn sie erst einmal mit Florians Eltern gesprochen hatte, würden die Reporter der anderen Zeitungen nichts mehr erfahren. Dafür sollte sie sorgen. Die Tür für die anderen schließen. Bis jetzt hatte es oft geklappt. Schließlich war sie ein Profi. Viktoria war tough, mit allen Wassern gewaschen. Und ihr war schlecht.
Als sie Barbara Jahnke in der geöffneten, großen Jugendstiltür stehen sah, ging es ihr nicht viel besser. Florians Mutter lächelte. Sie streckte die Hand aus und nahm Viktoria in den Arm. Fast so, als gelte es, die Reporterin zu trösten. Viktoria fühlte sich unbehaglich, Meike hielt sich höflich im Hintergrund. Von innen hörten sie die ruhige Stimme von Florians Vater.
»Kommen Sie rein. Tee oder Kaffee?«
Tee oder Kaffee? Viktoria konnte nicht glauben, dass er das gefragt hatte. Dass sein Sohn tot war, wusste er erst seit einem Tag. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Aber einen perfekten Gastgeber bestimmt nicht.
Als sie alle vier an dem großen Küchentisch saßen, schien die Sonne durch das Balkonfenster und zauberte Diskokugeleffekte auf die Kiefernholzplatte und die hellgrünen Tassen.
Viktoria versuchte, sich an das Licht bei ihren letzten Besuchen zu erinnern. Nie war es hell gewesen. Nie. Sie schaute nach draußen, sah den Berliner Himmel, den knallblauen Berliner Himmel.
Florians Mutter folgte ihrem Blick. Sie lächelte, während eine Träne über ihre Wange lief. »Ich bin froh, dass wir ihn jetzt begraben können«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
Ihr Mann nickte, schweigend.
Die Vorhänge waren sonst zugezogen, dachte Viktoria. Deshalb war es hier immer so dunkel.
Alle am Tisch warteten auf Viktorias Fragen. Doch sie fragte nicht.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen.« Viktoria rührte in ihrer Tasse und schaute auf ihren Kaffee. »Ich werde es auch noch der Polizei sagen, aber zuerst wollte ich mit Ihnen sprechen.«
Florians Mutter nickte.
Und dann erzählte Viktoria von dem Hinweis, den sie bekommen hatte. Davon, dass sie glaube, dass Florian nach dem Training nicht nach Hause gegangen sei. Dass sie ihn vielleicht auf einem Foto erkannt habe, von einer Autogrammstunde eines Basketballstars. Und sie erzählte, dass sie es auf sich beruhen ließ, weil sie dachte, es sei eine falsche Fährte gewesen, auf die sie jemand hatte locken wollen. Dass sie deshalb nichts gesagt hätte. Dass es ihr jetzt leidtäte, denn wenn sie den Mund aufgemacht hätte, hätte man ihn vielleicht früher finden können. Ein paar Monate früher …
Sie rührte immer noch im Kaffee. Dann endlich schaute sie auf und blickte in ihre Gesichter. Sie hatte Unverständnis erwartet, vielleicht sogar Zorn – aber Florians Vater schüttelte milde den Kopf.
»Es war keine falsche Fährte. Unsere Isabella hat sie gelegt – und Sie sind ihr gefolgt.«
»Isabella?«
»Unsere Tochter. Florians große Schwester. Sie hat Ihnen den Hinweis in eine Schatzkiste gelegt – oder vielmehr legen lassen.«
Viktoria erinnerte sich an Isabella. Sie hatte lange rote Haare und war nach dem Verschwinden ihres Bruders ausgezogen. Bei keinem von Viktorias Besuchen war sie da gewesen, nur die Fotos hatte Viktoria gesehen. Eine junge, sehr hübsche, fröhlich wirkende Frau. Vielleicht hätte sie ihren Eltern helfen können mit ihrer Fröhlichkeit, hatte sie damals gedacht und nicht verstanden, warum sie gegangen war. Warum sie ihre Familie im Stich ließ. Ihre Eltern, um die Viktoria sie beneidet hatte. Die ohne ihren Vater aufgewachsen war, nur mit ihrer Mutter, die eine Macke hatte.
Florians Mutter stand auf und kam mit einem Fotobuch wieder. »Hier, das hat sie uns vor ein paar Tagen geschickt. Sie hat jetzt einen Sohn. Niklas Florian Joss. Er ist jetzt acht Monate alt. Sie leben in Holland.«
Viktoria blätterte in dem Album, sah in blaue Kinderkulleraugen und verstand nichts.
»Niklas Florian Joss?« Ihr fiel nichts Besseres ein, als den Namen zu wiederholen.
Meike Niemüller schaltete sich vorsichtig ein. »Darf ich?« Sie wollte ein
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