Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
der Schmid Verlag, der zu feige war, Stachelmanns Habilschrift zu veröffentlichen, würde die Festschrift herausbringen, wahrscheinlich motiviert durch einen kleinen Zuschuss vom Herrn Professor.
Gerhard Kalterer, er hatte nie etwas von dem gelesen. Oder doch? Jetzt, da er darüber nachdachte, bildete er sich ein, da war etwas gewesen. Ein Aufsatz vielleicht, aber offenbar nicht bedeutend genug, um in Stachelmanns Hirn gespeichert zu werden. Wobei er zugab, sein Gedächtnis ähnelte dem Bermuda-Dreieck, aus unerklärlichen Gründen ließ es Dinge verschwinden, die Stachelmann gerne behalten hätte.
»Nun, Josef, was gibt's?«
»Ich ... äh, will den Vertrag nicht verlängern.«
Bohming runzelte die Stirn. »Der wird sowieso nicht verlängert. Du kriegst einen neuen, besser dotiert, und wir könnten ihn auch noch ein wenig auf der Zeitebene strecken.«
Was für ein Geschwafel: auf der Zeitebene strecken. Verbales Imponiergehabe des Alpha-Männchens.
»Ich höre auf, ich will gar keinen Vertrag mehr. Ich habe mir das ganz genau überlegt.«
Bohming stutzte, dann schaute er ihn seltsam mitleidig an. »Wir alle sind geschockt von dem, was da passiert ist, Josef. Ich habe auch schon überlegt, ob man angesichts solcher Verbrechen vor der Haustür weiter die Geschichte erforschen und lehren kann. Das habe ich mich wirklich gefragt. Aber ich mache weiter, weil diese Aufgabe wichtig ist, weil unsere Gesellschaft nicht überleben kann, jedenfalls nicht menschenwürdig, wenn es uns nicht gibt. Wir müssen diese Gesellschaft erziehen, sie hinweisen auf die Fehler, die früher gemacht wurden. Die Ethik verteidigen, die unter ungeheuren Opfern errungen wurde und deren Verlust neue Opfer kosten würde.«
»Ja, ja«, sagte Stachelmann. Bohming warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ich habe bemerkt, dass mir diese Habilschrift einfach zuwider ist. Da klebt Blut dran ...«
»Aber, Josef, du übertreibst. Du bist doch völlig unschuldig.« Bohming nahm eine Mappe in die Hand und legte sie wieder hin. Sein Hirn arbeitete, die Stirn zuckte. Dann schaute er Stachelmann in die Augen. »Gut, wenn dir die Arbeit zuwider ist, zieh sie zurück.« Er sprach sachlich, ein bisschen verärgert vielleicht über diesen halsstarrigen Mitarbeiter, der ihm immer wieder Scherereien bereitete. So verstand es Stachelmann. »Aber dann suchen wir ein anderes Thema, und du fängst von vorne an.«
»Absurd«, entfuhr es Stachelmann. »Entschuldigung, aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, mich noch einmal an eine solche Arbeit zu machen. Es ist sinnlos. Außerdem, ich werde nicht jünger, und was ist ein alternder arbeitsloser Geschichtsprofessor? Am Ende auch nur ein Hartz-IV-Empfänger.«
»Ich würde dir doch helfen. Ich müsste mir nur überlegen, wie man eine Habilitation zurückziehen und eine neue beginnen kann. Ist bestimmt noch nicht vorgekommen.«
Stachelmann staunte. Wie schnell der Sagenhafte sich auf die neue Lage einstellte. Unglaublich. Bohming überlegte. Dann sagte er: »Wir machen Folgendes, ich habe ja gleich einen Termin. Wir sprechen noch einmal darüber, ausführlich. Vielleicht machst du Urlaub, und danach siehst du die Dinge gelassener. Leg dich nicht fest, du weißt, ich tue alles, um dich hier zu halten. Und bedenke, wenn du gehst, was willst du tun? Und ich mache mich schlau in der Zwischenzeit.«
»Du hast mich nicht verstanden, Hasso. Ich will keine neue Habil. Ich höre auf. Ich verlasse die Uni.«
Bohming starrte ihn an wie einen, der nicht bei Sinnen ist. »Du schmeißt alles weg«, sagte er.
»Nur wenn das, was ich hier tue, alles ist. Ich fürchte, dass ich das ein wenig ... überschätzt habe. Und die Erziehung, ich würde dieses Wort ja nicht benutzen, also die Erziehung übernehmen heute die Geschichtsdramaturgen, die Filmschnipsel zu historischen Stimmungsbildern verwursten und Zeitzeugen nach Bedarf zwischen die Schnipsel stückeln, damit authentisch wirkt, was doch nur konstruiert ist. Sie werden irgendwann noch die Nachfahren von Blondie befragen. Damit Klein-Egon glaubt, das wäre Geschichte, dabei ist das ...« Er unterbrach sich. »Ein Kollege hat auf dem letzten Historikertag gesagt, das sei Geschichtspornographie. Genau das ist es.«
Bohming nickte. »Und die Diener der Herrschaften, sogar die Kinder und sonstigen Verwandten sollen Zeitzeugen sein. Absurd. Aber dieser Unsinn macht doch unsere Aufgabe nur noch wichtiger.«
»Gegen die Glotze kommen wir nicht an. Ich merke das schon bei
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