Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
meinen Studenten. Die finden Geschichte als Wissenschaft grässlich langweilig. Die hatten wohl gehofft, die Dauererregung gebe es auch in Seminaren und Vorlesungen. Aber wir sind halt die Erbsenzähler und Staubschlucker. Tatsächlich, genau das sind wir. Und das interessiert kein Schwein.«
Bohming wollte etwas sagen, unterließ es dann und blickte auf seine Armbanduhr. »Josef, bitte entscheide das nicht voreilig. Dummerweise müssen wir das Gespräch jetzt unterbrechen. Mein Termin, du weißt ja.«
Stachelmann erhob sich, auch Bohming stand auf. Der reichte Stachelmann die Hand und sagte: »Denk nochmal darüber nach. Versprich mir das.«
Mein Gott, darüber habe ich genug nachgedacht. »Gut, ich denke zurzeit sowieso an nichts anderes. Das muss ich dir nicht versprechen. Aber ich spüre, die Entscheidung ist gefallen, und sie ist richtig.«
Bohming schnaufte. Stachelmann hatte ihn noch nie schnaufen hören. Er verließ das Zimmer und ging in seines. Dort setzte er sich hinter den Schreibtisch, zog einen Schreibblock vor sich, nahm einen Bleistift und begann Männchen zu malen. Erst kleine, dann größere, schließlich passten nur noch die Gliedmaßen aufs Papier. Riesenhände, Riesenfüße.
Er schob den Block weg und schaute sich um. Der Tisch an der Wand, auf dem der Berg der Schande gelegen hatte. Der Computer, dessen Lüfter immer rauschten, er hörte es kaum noch. An der Wand ein Kalender. Ein Regal, darauf eine Kaffeetasse, die er schon vor einigen Tagen hätte in die Küche bringen sollen. Im Regal Bücher, Zeitschriften. Er stand auf und ging zum Fenster. Gegenüber das Dach der WiSo-Fakultät. Wenn der Mörder jetzt dort läge, könnte er Stachelmann durchs Fenster erschießen. Für einen guten Schützen keine Schwierigkeit. Seltsam, die Angst war verschwunden. Er starrte hinüber und wartete auf das Blitzen des Schusses. Ganz kühl.
Er hatte noch viel Zeit bis zum Seminar. Gerade als er sich entschlossen hatte, spazieren zu gehen, öffnete sich die Tür, und Anne trat ein. Sie umarmte ihn.
»Wohin des Wegs?«
»Einmal um den Block.«
»Nimmst du mich mit?«
»Klar.«
Draußen regnete es, aber das war ihm gleichgültig. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und hakte sich ein.
»Kennst du einen Kalterer, Gerhard Kalterer?«
»Nein ... oder doch?«
Er lächelte, so war es ihm auch ergangen mit dem Namen.
»Da stand so eine Festschrift bei Bohming im Regal. Muss älter sein, sah jedenfalls so aus.«
»Über einen oder von einem Kalterer habe ich mal was gelesen. Aber ob das der ist?«
»Unwichtig«, sagte er. »Nur, mir ging es wie dir, dass mir der Name unlängst untergekommen sein muss. Aber ich hatte mit dermaßen vielen Namen zu tun bei der Habil, dass ich schon längst den Überblick verloren habe. Und eine Festschrift kriegt ja ziemlich jeder, der das Greisenalter erreicht. Außer mir, natürlich.«
»Weißt du, warum ich gekommen bin?«
»Nein.«
»Der Sagenhafte hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich. Er glaubt nicht, dass er dich vom Entschluss aufzuhören abbringen kann. Er schwafelte so was wie: dass er bloß keinen Unsinn macht.«
Stachelmann verstand, was Bohming meinte. In den letzten Jahren war die Idee, dem Elend ein Ende zu machen, immer wieder gekommen. In einer besonders finsteren Stunde hatte er im Internet recherchiert, wie man schmerzfrei abtreten könne. Man brauchte nur eine Plastiktüte, und die Deluxevariante war Plastiktüte mit Äther. Natürlich hatte er ihr nichts erzählt davon.
»Nein, nein, ich mache gar nichts. Ich werde das Seminar bis zum Semesterende fortführen, und das war es dann.«
»Mein Gott, Josef.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Und was wird aus uns?«
»Das hat nichts mit uns zu tun.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Es wird etwas fehlen, das wir gemeinsam hatten.«
»Wahrscheinlich ist es besser so. Es hat uns doch nicht nur Glück gebracht, diese Gemeinsamkeit. Wir bereichern unsere Beziehung eher, wenn jeder was anderes macht.«
Sie gingen ein paar Schritte. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber was willst du machen? Man muss doch wissen, was man anstellen will, wenn man aufhört mit einer Sache.«
Jetzt schwieg er ein paar Schritte. Ein junger Mann grinste sie an. Bestimmt ein Student.
»Vielleicht schreibe ich unseriöse Bücher. Es wäre eine Möglichkeit, mit dem was anzufangen, was ich gelernt habe.«
»Nein, Josef, bei allem Respekt. Aber Romanschreiber, das ist nichts für dich.«
»Was ist etwas
Weitere Kostenlose Bücher