Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
nicht mehr gesagt, dass sie ihn liebe? Ewig war das her. Es rührte ihn, gerade weil sie es so spontan gesagt hatte, es ihr herausgerutscht war.
»Wirklich?«
»Würde ich sonst auf den Unsinn eingehen, dass der Sagenhafte der größte Mörder seit Jack the Ripper ist? Klassischer Fall von verdrehtem Kopf.«
Er nahm ihre Hand. Das Essen stand unberührt vor ihnen. »Ich glaube es ja auch nicht. Bohming als Killer, absurder geht's nicht. Außerdem bin ich ungerecht.«
Sie zog die Hand unter seiner weg. Vielleicht dachte sie an Ines und wie Stachelmann Anne damals enttäuscht hatte. Er hätte einiges dafür gegeben, wenn er das hätte rückgängig machen können.
Sie stocherte im Reis. »Nein, Bohming war es nicht. Aber du solltest dich trotzdem mit ihm beschäftigen. Vielleicht findest du was Interessantes. Das würde mich freuen, es würde helfen, falls ich mich mal wieder ärgere über ihn. Wenn man dann weiß, dass der Sagenhafte keineswegs so sagenhaft ist, ärgert man sich gleich weniger.«
Und wahrscheinlich denkt sie: Solange du in der Bibliothek herumsitzt, so lange gehst du nicht auf Mörderjagd und kann dir nichts passieren. Und doch erschien es ihm vernünftig, zumal er keinen sonstigen Anhaltspunkt hatte. Außerdem, es war interessant, am Ende seiner Unizeit die Arbeiten seines Chefs endlich genau kennen zu lernen. Er hatte viele Jahre zuvor in Bohmings Arbeiten herumgelesen, genauer gesagt, sich damit gequält. Die Doktorarbeit war dünn, die Habilschrift auch nicht besser. Er erinnerte sich, dass Bohming in späteren Schriften alles zusammenrührte, was es an Positionen gab, um am Ende geschickt einfließen zu lassen, er habe dies oder jenes doch immer schon gesagt. Erstaunlich fand Stachelmann, dass Bohming sich weiterhin traute, auf Kongressen und Tagungen aufzutreten. Er hatte sich wohl längst einen Schutzpanzer zugelegt oder eine virtuelle Augenklappe, um nicht zu sehen, wie andere über ihn spotteten. Doch konnte er nicht immer alles überhören und überlesen, er brauchte ein dickes Fell, also das, was Stachelmann nicht besaß.
»Allein, dass wir die Möglichkeit erwägen, Bohming könnte es sein, beweist, dass wir spinnen und nicht den Hauch einer Ahnung haben, was hinter der Sache steckt. Zumal der Sagenhafte ein sagenhaft gutes Alibi hat«, sagte Stachelmann. »Komischerweise habe ich zurzeit selten Angst, dabei müsste ich doch hinter jeder Ecke einen Scharfschützen vermuten wie vor kurzem noch.«
»Ich fürchte, die wirkliche Angst kommt erst noch. Wenn die Anspannung nachlässt, wenn die Bedrohung vorüber ist, absurderweise.«
»Das ist ja tröstlich«, sagte er. »Was Bohming angeht, so habe ich doch das Gefühl, wir sind da einer Sache auf der Spur, wenn auch über ein paar Ecken.«
»Mal hältst du es für absurd, mal für eine heiße Spur. Du solltest dich entscheiden.«
»Keineswegs. Ich werde heute Abend wieder anders denken als jetzt und morgen früh anders als heute Abend. Ich habe es nicht nötig, mich festzulegen.«
»Seit wann lässt du dich von Stimmungen tragen?«
»Ungefähr seit heute.«
Sie lächelte, aber Stachelmann sah, sie war verunsichert. Natürlich, er hatte sich verändert seit seinem Beschluss, die Uni zu verlassen. Er fühlte sich frei, auch wenn er ahnte, dieses Gefühl würde nicht lang anhalten. Aber jetzt hatte er keine Angst vor der Zukunft wie in all den Jahren, als er am Historischen Seminar gearbeitet hatte. Diese Zeit der Unsicherheit, der Selbstzweifel, des Versagens war vorbei. Das war ihm wichtiger, als sich mit dem zu beschäftigen, was ihn erwartete. Jetzt zweifelte er nicht mehr, es war die einzig richtige Entscheidung. Er nahm sein Schicksal selbst in die Hand. Und immerhin hatte er ein Projekt. Wenn er sich darauf stürzte mit all seiner Zähigkeit und seiner Intelligenz, dann würde er sich schon durchschlagen. Reich würde er nicht werden, aber es würde zum Leben genügen.
Sie aß einen Bissen, aber offenbar nur, um nichts sagen zu müssen.
»Es wird auch für uns besser sein, wenn ich dir nicht dauernd über den Weg laufe im Seminar. Wenn ich eine andere Erfahrung einbringen kann. Das wird dich schon interessieren, was Leute in der richtigen Welt bewegt.«
»Das hast du schon mal gesagt. Schön, dass du mich beruhigen willst.« Wieder stocherte sie auf ihrem Teller herum. Sie überlegte, dann sagte sie: »Also, ich sehe, ich kann dich nicht abbringen von deinem Trip, du bist ein sturer Bock. Ich mache jetzt einen Vorschlag,
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