Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Er wunderte sich, dass kein Passant ihn anstarrte, er glaubte zu torkeln wie ein Betrunkener. Aber er blieb nicht stehen, klammerte sich nirgends fest, sondern zwang sich durchzuhalten. Er wurde nass, Menschen hasteten an ihm vorbei. Die Straßenlaternen ließen die Regentropfen glitzern.
Zu Hause warf er den Mantel auf den Boden und setzte sich aufs Sofa im Wohnzimmer. Vom Haar tropfte es ihm in den Kragen, ihn schauderte, nicht nur wegen der Nässe. Er stand auf, ging in die Küche und suchte nach Wein oder sonstigem Alkohol. Er fand nichts. Sollte er wieder ins Ali Baba gehen? Warum nicht? Aber dann fehlte ihm die Kraft, das Stück zu laufen. Und er wollte nicht wieder hinaus in den Regen. Er stellte sich ans Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Er sah den Polizeiwagen, eine Zigarette glimmte auf hinter der Windschutzscheibe. Jetzt, in diesem Augenblick, hätte ihn einer vom gegenüberliegenden Dach aus abknallen können, und die Polizisten hätten es nicht einmal gemerkt. Er ging in den Flur, hob seinen Mantel auf, zog ihn an und stieg die Treppe hinunter. Er trat neben das Auto und klopfte an die Scheibe auf der Fahrerseite. Die Scheibe senkte sich, Zigarettenqualm trat heraus. Der Beamte schaute Stachelmann neugierig an.
»Fahren Sie nach Hause«, sagte Stachelmann.
»Aber wir haben Anweisung ...«
»Ich möchte nicht mehr beschützt werden. Sagen Sie das Ihrem Chef. Erstens könnte mich jeder jederzeit über den Haufen schießen, ohne dass Sie es merken. Und zweitens erinnert mich die Bewachung immer wieder an diesen Wahnsinn. Und das plagt mich mehr als die Angst vor einem neuen Anschlag.«
»Aber ...«
»Sprechen Sie mit Ihrem Chef.«
Er ging zurück ins Haus, ohne eine Antwort abzuwarten. Als er sich oben ans Fenster stellte, sah er den Polizeiwagen wegfahren. Wenn der Killer etwas von ihm wollte, konnte er jetzt kommen. Stachelmann war es egal, Hauptsache, es ist bald vorbei. Wieder meldete sich der Hass. Dieser Typ beherrschte sein Leben, ob der ihm nun folgte oder nicht. Allein die Vorstellung genügte. Wenn ich den Kerl erwische, bringe ich ihn um. Und ich werde kein schlechtes Gewissen haben. Kein bisschen.
Kein bisschen.
Dass er schlecht geschlafen hatte wegen Schmerzen und auch wegen der Alpträume, die ihn gequält hatten, während er sich halb wach herumwälzte, vergaß er, als der Postbote klingelte und ihm eine Büchersendung brachte. Die Kalterer-Festschrift, er wusste es. Fast zitterte er vor Aufregung. Er setzte sich aufs Sofa und blätterte. Die erste Enttäuschung war, dass kein Beitrag von Bohming verzeichnet war. Er tauchte offenbar nirgends auf in dem Buch. Der Sagenhafte hatte nichts zu tun mit Kalterer, das war Stachelmann schnell klar. Er hatte das Buch umsonst bestellt. Obwohl er es längst wusste, blätterte er weiter, suchte im Anhang, fluchte, weil es kein Personenverzeichnis gab, las die Danksagung, natürlich ohne Erfolg. Warum auch immer dieses Buch in Bohmings Regal gestanden und Stachelmann gewissermaßen angeschaut hatte, er wusste es nicht. Warum hob Bohming so ein läppisches Buch auf? Stachelmann hätte gar keinen Platz dafür. Um sicherzugehen, musste er in dem Buch lesen, aber spätestens Montag würde es im Altpapier landen.
Das Telefon klingelte. Er nahm ab.
»Am Sonntagnachmittag, gegen vier, schaue ich mir das Altenheim an. Bitte, wenn du Zeit hast, könntest du mitkommen? Es ist ja ganz in der Nähe.« Die Mutter klang unsicher.
»Natürlich. Ich werde pünktlich bei dir sein.«
Das Altenheim war die letzte Station. Der Gedanke schmerzte ihn. Immer wieder vernachlässigte er sie. Irgendwann würde er es nicht mehr wieder gutmachen können, nicht einmal in seiner Einbildung. Du bist ein elender Egozentriker, immer nur deine Wehwehchen. Gut, dass auf einen geschossen wurde, das war ernst. Aber auch vorher hatte er sich nicht um die Mutter gekümmert, auch nicht, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Er saß mit dem Buch auf dem Schoß und überlegte, warum er war, wie er war. Warum er alles falsch machte. Warum es immer ihn traf. Er hatte all die Jahre nur in Ruhe arbeiten wollen. Aber das Schicksal, oder wer immer sich für ihn zuständig fühlte, meinte es schlecht mit ihm. Vielleicht lag es daran, dass er sich einmal, bei dem Holler-Fall, auf etwas eingelassen hatte, das ihn nichts anging. Er wollte Ossi helfen, und er war neugierig gewesen. Seitdem geschahen merkwürdige Dinge, immer wieder wurde er in Verbrechen verstrickt,
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