Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
schien auf und setzte sich fest. Vielleicht wäre es das Beste, Schluss zu machen. Er konnte es gleich tun, ein Sprung auf die Gleise, wenn ein Zug einfuhr. Er wusste ja, wie man sich dabei fühlte. Oder nicht, weil er nur wusste, wie es war, wenn man auf die Gleise gestoßen wurde? Er schüttelte den Kopf, als könnte er den Gedanken so loswerden. Aber er sprang nicht aufs Gleis, als die S-Bahn zum Hauptbahnhof kam, sondern wartete, bis sie hielt, und stieg ein. Im Wagen stank es verbrannt, er blieb stehen, um nahe an der Tür zu sein. Er schaute sich um, um die Quelle des Gestanks zu entdecken, sah aber nichts. Vielleicht riechst nur du den Gestank, jedenfalls schienen sich die Leute im Wagen nicht gestört zu fühlen. Im Hauptbahnhof stürzte er fast aus dem Wagen. Er stieg die Treppe hoch zur Galerie und wurde mitgerissen vom Menschenstrom. Dann drängte er ans Geländer und hielt sich fest, während der Strom nun an ihm vorbeizog. Er versuchte einzelne Gesichter zu erkennen, sah aber nur Schemen wie in einem Film, der zu schnell lief. Er blickte hinunter aufs Gleis und dachte daran zu springen, sobald ein Zug sich näherte.
»Haste mal 'nen Euro?«, schrie ihn einer an.
Stachelmann drehte sich um, sah einen alten Mann, klein, Kinnbart, Glatze, Warzen auf der Stirn, Lücken zwischen braunschwarzen Zähnen. Der streckte ihm die Hand entgegen, die in einem fingerlosen Handschuh steckte.
»Guck nicht so, einen Euro!«
Stachelmann nahm sein Portemonnaie und gab dem Mann fünfzig Cent.
»Zu großzügig, vielen Dank.«
Auf Gleis 7 rollte sein Zug ein. Er sah Menschen herausquellen und stellte sich auf die Rolltreppe hinunter zum Bahnsteig. Er überlegte, ob er schon einmal niedergeschlagener gewesen war. Kaum. Nicht beim Tod des Vaters, und auch sonst konnte er sich an keine Gegebenheit erinnern, an nichts, was deprimierender gewesen wäre. Die Beziehung mit Anne in der Krise, und jetzt fand er auch seinen Plan abwegig. Ein Büro für historische Recherchen. War er überhaupt in der Lage, Kunden zu werben? Er und werben? Konnten Menschen ihm zutrauen, das herauszufinden, was sie erfahren wollten? Ihm, der nie etwas zu Ende brachte?
Aber an der Universität würde er nicht bleiben. Er ertrug sie nicht mehr, nicht die Kollegen, nicht die Studenten. Der sicherste Weg in den Untergang wäre, zu bleiben. Er konnte Bohmings Gesicht nicht mehr sehen, seine Wichtigtuerei, sein väterliches Gehabe, sein so unausgesprochenes wie aufdringliches Verlangen, bewundert zu werden. Ja, das war immerhin eine gute Idee, sich zum Ende seines Unidaseins einmal intensiv mit dieser Koryphäe zu beschäftigen. Er hatte Lust, ihm auf die Schliche zu kommen, zu erfahren, wie man Ordinarius wird, ohne wirklich wissenschaftlich zu arbeiten. Den letzten großen Auftritt des Sagenhaften auf einem Historikerkongress hatte ja Anne vorbereitet. Weil Bohming zu faul gewesen war, oder weil er es einfach nicht konnte. Nicht er, Stachelmann, war der Versager, sondern Bohming. Der hatte schon viel länger nichts auf die Reihe bekommen, während Stachelmann seine Habilschrift verfasst hatte. Gut, das hatte gedauert, aber nun war sie fertig, und wenn er einige Augenblicke den Komplimenten der Kollegen glaubte, mochte sie so schlecht nicht sein. Es hatte gereicht. Und verteidigt hatte er sie auch schon. Nun hatte er alle Bedingungen erfüllt, um sich Professor oder wenigstens Privatdozent zu nennen. Es fehlte noch die Urkunde, Formsache.
Er setzte sich in das Großraumabteil der ersten Klasse, fand auf dem Sitzplatz neben ihm ein Hamburger Abendblatt und begann darin zu blättern. Er verstand nicht, was er las. Er sah ein Bild des Hamburger Bürgermeisters und versuchte die Bildunterschrift zu begreifen. Aber sein Kopf war leer. Er legte die Zeitung weg, warf einen Blick auf die Frau, die sich ihm gegenübersetzte, und schloss die Augen. Jetzt sah er Schemen. Als die Angst herankroch, öffnete er die Augen und merkte, dass der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Hasselbrook, dann hatten sie Berliner Tor schon durchfahren. Es begann zu regnen, Wassertropfen formten sich zu Spritzern auf der Scheibe. Hoffentlich kommt die Kalterer-Festschrift morgen, dachte er. Das war zwar wenig wahrscheinlich, aber die Beschäftigung mit ihr würde ihn übers Wochenende bringen.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Obertrave verwandelten sich seine Knie in Gummi. Er beachtete den Polizeiwagen nicht, aus dessen Auspuff Rauchwolken waberten und gleich vom Regen geschluckt wurden.
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