Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
und diesmal ging es ihm an den Kragen, da war er sich sicher. Es lohnte nicht wegzulaufen. Nicht, in Deckung zu gehen. Nicht, sich schützen zu lassen. Die Dinge nahmen ihren Lauf, daran konnte er nichts ändern.
Dann lachte er, schrill, kurz. Jetzt bist du wirklich verrückt. Du glaubst an das Schicksal, an finstere Mächte. So weit war es gekommen.
Wieder las er in der Kalterer-Festschrift. Gesülze, Schmeichelei, es ekelte ihn an. War er genauso wie diese Aktentaschenträger, die sich Historiker nannten? Zwei Namen kannte er, die waren heute Lehrstuhlinhaber in Bochum und Bielefeld. Verlangten sie nun auch, dass ihre Assistenten Speichel leckten? Was hätte er geschrieben, wäre er aufgefordert worden, an einer Festschrift für Bohming mitzuwirken? Wenn der Sagenhafte in Pension ging, dann würde er auch eine Festschrift bekommen, bestimmt, und sie würden ihn preisen als einen der großen Historiker Deutschlands, obwohl alle wussten, dass er ein großmäuliger Faulenzer war.
Wenn eines sicher war, er würde nie eine Festschrift bekommen. Wer sollte ihn auch umschmeicheln? Das lohnte sich nicht.
Das Telefon klingelte. Es war Georgie. Er wollte wissen, ob es etwas Neues gab. Nein, nichts, sie müssten sich auf die Polizei verlassen.
»Und du willst nichts mehr machen?«
»Nein«, sagte Stachelmann. Er erzählte ihm nicht, dass seine letzte Spur ins Nirwana geführt hatte. Spur? Lächerlich, eine Spekulation, wild und ohne jeden Anlass, ausgenommen den Blick ins Bücherregal seines Chefs. Das traute er sich Georgie nicht zu erzählen.
»Dann werden wir nie erfahren, wer Gitte umgebracht hat.«
»Geduld«, sagte Stachelmann. »Die Polizei wird es herausbekommen, früher oder später.«
»Hoffentlich vor meinem Ableben«, sagte Georgie bitter.
»Du wirst doch nicht in die Elbe springen wollen.«
»Im Sommer wieder, jetzt wär's zu kalt.«
Als Georgie sich verabschiedet hatte, wusste Stachelmann, dass er ihn kaum wiedersehen würde außer durch einen Zufall. Nur der Mord an Brigitte hatte sie zusammengebracht, sonst verband sie nichts, auch wenn Stachelmann Georgie für einen guten Typen hielt.
Das Gespräch hatte ihn ein wenig aufgemuntert. Er warf die Kalterer-Festschrift in den Papierkorb, rief ein paar läppische Mails und viel Spam ab, prüfte, ob im Internetforum etwas Neues stand, natürlich nicht, nahm sich die gerade erschienene Biographie von Hans Frank und begann zu lesen. Nach einer Weile legte er ein Mozart-Klavierkonzert auf und las weiter. Bald merkte er, dass Mozart nicht zum Leben eines Nazis passte, und begann seine CDs zu durchsuchen, ohne aber etwas Geeignetes zu finden. Also stellte er die Musik aus.
Dann legte er das Buch weg, rieb sich die Augen, als glaubte er nicht, was er da las, aber es war ihm geläufig, auch dass Juristen zu Mördern werden. Unzählige Richter der Nazizeit mühten sich nach fünfundvierzig, sich selbst freizusprechen, und es gelang ihnen, mit haarsträubenden Konstruktionen, aber mit durchschlagendem Erfolg. Der größte Massenselbstfreispruch der Geschichte. Hätte Freisler, den Vorsitzenden des Nazi-Volksgerichtshofs, der die Angeklagten erniedrigte, bevor er sie aufs Schafott schickte, hätte diesen Massenmörder nicht die Strafe in Gestalt einer Fliegerbombe ereilt, er wäre wohl Landgerichtsdirektor geworden, aber nur weil es 1945 noch keinen Bundesgerichtshof gab, dem anzugehören die natürliche Fortsetzung einer beispiellosen Karriere gewesen wäre. Jedenfalls hatte ein bayerisches Versorgungsamt der Freisler-Witwe 1974 eine Rentenerhöhung bewilligt, weil der Tod ihren Mann daran gehindert hatte, nach dem Krieg seine Karriere fortzusetzen. Und Freisler hätte erfolgreich geklagt gegen die Degradierung zum Landgerichtsdirektor, weil er doch niemals das Recht gebeugt, sondern es nur angewandt hatte.
Stachelmann hatte neben vielen Fehlern einen weiteren, er war nicht abgebrüht. Er ärgerte sich immer, wenn er sich damit befasste, obwohl er den Irrsinn in allen Facetten so lange kannte. Was er aber noch nicht herausgefunden hatte, war, ob der Irrsinn nach fünfundvierzig nicht noch grotesker war als vorher. Er stand auf, kramte in einem Aktenstapel auf dem Schreibtisch, bis er es gefunden hatte, das Urteil des Landgerichts München von 1968: »Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei dem Volksgerichtshof um ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenes Gericht im Sinne des § 1 Gerichtsverfassungsgesetz.«
In der Nacht schlief er schlecht.
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