Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
es nicht. Bei aller Logik der Gedanken, Bohming legte sich nicht auf ein Dach und schoss mit einem Militärgewehr auf Leute. Bohming wäre auch nicht so dumm, ein solches Risiko einzugehen. Und er war nicht dumm genug, jemanden zu beauftragen. Auftragsmörder haben den Auftraggeber in der Hand. Nein, Bohming war faul, aber nicht dumm. Und er hatte ein Alibi. Aber vor allem: Warum sollte er so etwas tun?
Warum?
Er rief Anne an und erzählte ihr, was er gelesen hatte und dachte.
»Montag, spätestens Dienstag habe ich die Habilschrift von Bohming. Und ein paar Werke des Kollegen Hamm. Dann sehen wir weiter. Vielleicht«, sagte Anne. Er freute sich.
»Vom Hamm brauchen wir eigentlich nichts mehr. Das hat uns Brigitte schon geliefert. Ein paar Zitate, aber sie reichen, um einem schlecht werden zu lassen. Hamm war einer wie Schieder und Conze, denen später ihre Schüler bescheinigten, nie etwas mit den Nazis zu tun gehabt zu haben. Die geistige Freiheit nicht verloren zu haben. Na ja, in gewisser Hinsicht stimmt das sogar, sie haben sich schließlich freiwillig eingebräunt.«
»Trotzdem, wir machen das gründlich. Damit später keiner was sagen kann.«
»Du wirst staunen, wer später alles was sagen wird.«
»Bohming aber nicht«, sagte Anne.
»Doch, der wird sagen, dass Hamm nach 1945 ein untadeliger Wissenschaftler gewesen sei und seine damaligen Verfehlungen zutiefst bedauert habe.«
»Dass ich nicht lache. Wetten, dass wir keine Zeile finden, in denen der Herr bereut?«
»Das habe ich nicht behauptet. Bohming wird erklären, es aus dem Mund des Herrn Hamm erfahren zu haben. Leider war sonst keiner dabei.«
Anne lachte. Das konnte sie sich vorstellen.
Es würde zu Bohming passen. Nicht einfach abstreiten, was offenkundig war, sondern eine geschickte Absetzbewegung einleiten, warten, wie darauf reagiert wurde, dann noch etwas nachschieben, so etwa: Ja, ich habe Hamm nicht nur einmal aufgefordert, das Eingeständnis öffentlich zu wiederholen. Er hat es mir auch zugesagt, leider konnte er das Versprechen aber nicht mehr einlösen vor seinem plötzlichen Tod.
Und warum haben Sie geschwiegen?
De mortuis nihil nisi bene.
Gewiss, dachte Stachelmann, über die Toten soll man nur Gutes sagen. Es sei denn, sie waren Nazis.
Am Montagmorgen fuhr er nach durchwachter Nacht müde, aber aufgeregt zurück nach Hamburg. Doch dann fiel ihm ein, dass Hamms braune Biographie nicht erklärte, warum sich einer auf das Dach der WiSo-Fakultät legte und schoss. Und es erklärte auch nicht den Mord an Brigitte. Genauso wenig, ob es einen Zusammenhang gab mit der Internetkampagne, die Brigitte in einem Anfall überbordenden Zorns angezettelt hatte. Er glaubte, die Dinge gehörten zusammen, aber er wusste nicht, wie. Und er kannte nur einen Weg, auf dem er vorankommen könnte. Nicht weil der Weg unbedingt zum Ziel führte, sondern weil er keinen anderen sah. Kurz vor dem Hamburger Hauptbahnhof packte ihn die Ernüchterung. Noch einmal überlegte er: Wegen Hamm diese Verbrechen? Quatsch. Die Zeitgeschichtler haben gemütlich mit ihren braunen Stammvätern gelebt und gleichzeitig beansprucht, den Deutschen ihre Geschichte zu erklären. Das hatte Jahrzehnte gut geklappt, die Hauptprotagonisten waren hochgeehrt ins Grab gefahren, und nun konnte man über sie herziehen. Wen kratzte das noch? Dass da ein paar der SS zugearbeitet hatten, ja geradezu die Endlösung hatten herbeischreiben wollen? Wie grässlich. Nur, was haben die von ihren Lehrmeistern getäuschten Schüler damit zu tun? Warum sollte ein Hamm-Schüler, der längst Ordinarius war, unkündbar, mit fetter Pension, ausrasten, nur weil Stachelmann in seiner Arbeit Hamm erwähnte? In der Arbeit stand etwas Kritisches über Kalterer, nicht über Hamm. Auf die Ernüchterung folgte Enttäuschung. Er hatte wieder nichts in der Hand, um den Killer loszuwerden. Jetzt, wo er an ihn dachte, stieg die Angst aus dem Unterbewusstsein und griff nach ihm wie eine Krake nach dem Fisch.
Er ging nicht ins Seminar, sondern zu Anne. Die war nicht da. Auf ihrem Schreibtisch ein Bücherstapel, Bohmings Schriften. Er nahm die Bücher in die Hand, blätterte und sah, dass die Habilschrift des Sagenhaften fehlte.
Er öffnete die Datei mit seiner Habilschrift und suchte nach der Stelle, in der er Hamm erwähnte. Als er sie fand, lachte er trocken. Hamm war als Mitherausgeber eines Sammelbandes über Bevölkerungsbewegungen in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg erwähnt. Das war in einer
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