Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
erreichten die Tür, die Mutter atmete schwer. Das ist nicht die körperliche Anstrengung, sondern die Angst, hier leben zu müssen. Sie betraten das Zimmer, Frau Dengel stand am Fenster. »Waldluft, gesünder geht es nicht.«
Die Bäume waren höher als das Fenster und verdunkelten es. Zu keiner Tageszeit würde hier die Sonne hineinscheinen.
»Ziemlich dunkel«, sagte Stachelmann.
Frau Dengel ging zur Tür und schaltete das Licht ein. »Da kann man ja nachhelfen. Und wenn Ihre Frau Mutter sich in die Sonne setzen will, wir haben draußen wunderbare Bänke. Bedenken Sie aber, zu viel Sonne ist auch nicht gut.«
»In dem Alter ist sie gut«, sagte Stachelmann.
Frau Dengel verlor für einen Augenblick die Beherrschung über ihr Gesicht und schaute ihn an wie ein ausgehungerter Vampir. Dann zwang sie das Lächeln zurück in ihr Gesicht. Aber sie antwortete nicht. Sie öffnete einen alten Schrank. »Hier können Sie Ihre Kleidung unterbringen. Schön groß, nicht wahr?«
Stachelmann betrachtete das Schloss an der Tür. »Das kriege sogar ich mit einer Büroklammer auf«, behauptete er und hoffte, es nicht beweisen zu müssen.
»Das ist Absicht. Ein Notfall, wir hoffen es ja nicht, sind aber realistisch, und die Tür von innen abgeschlossen. Sie verstehen?« Ihre Mundwinkel hätten am liebsten die Ohren erreicht.
»Ein Sicherheitsschloss und ein Zentralschlüssel, was halten Sie davon?«
»Unser System hat sich bewährt«, sagte sie.
»Es gibt keine Diebstähle?«
»Wo denken Sie hin! Wir haben nur anständige Bewohner. Wir sind eine Gemeinschaft. Die Leitung des Hauses legt größten Wert darauf, nur ehrliche Menschen aufzunehmen. Wir schauen da genau hin.«
Stachelmann glaubte ihr die Empörung nicht. Sie benutzte ihr Gesicht wie eine Ampel, die sie fast nach Belieben schaltete. Bei Rot gab sie den Vampir, bei Grün zog sie die Mundwinkel in Richtung Ohren. Gelb war die Zwischenphase. Immerhin ein Gewinn, eine lebende Ampel, das hatte ich noch nicht.
»So, nun zeige ich Ihnen die anderen Einrichtungen.« Energisch schritt Frau Dengel wieder voran. Sie stiegen die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Dort saßen immer noch die beiden Herren. Stachelmann näherte sich ihnen, Frau Dengel schaute ihm grimmig hinterher. »Sagen Sie, meine Herren, hat es hier schon einmal einen Diebstahl gegeben?«
»Einen?«, fragte der mit der Glatze, Empörung klang mit. »Eine Serie.«
»Früher hätte es das nicht gegeben«, sagte der andere. »Bei uns war es verboten, die Spinde abzuschließen. Kameradendiebstahl war verpönt. Aber in heutiger Zeit ...«
»Danke, Hauptsturmführer«, sagte Stachelmann.
Der Mann zuckte kaum merklich zusammen, dann grinste er. »Sie wollten es wissen«, sagte er fast schnippisch und wandte sich wieder dem Glatzkopf zu.
Stachelmann ging zurück zur Mutter und zu Frau Dengel.
»Wir gehen«, sagte er, ohne Frau Dengel anzuschauen.
»Aber, Josef«, sagte sie.
»Bitte, komm!«
Er nahm sie am Arm und zog sie sanft zur Haustür. Schließlich folgte sie. Frau Dengel zischte einmal, dann ließ sie die Sohlen aufs Parkett knallen.
Draußen auf der Treppe sagte Stachelmann. »Hier wird geklaut, das Zimmer ist eine Gruft, und Frau Dengel lügt. Wir suchen dir was anderes.«
Die Mutter sagte nichts. Stachelmann fragte sich, ob sie unglücklich war. Aber wie konnte man glücklich sein, wenn man in einem Heim lebte, in dem es um alles Mögliche ging, nur nicht um das Wohl der Bewohner.
»Und nun?«, fragte die Mutter leise, als sie im Auto saßen.
»Nichts zwingt dich, das erstbeste Heim zu nehmen. Du hast genug Geld. Wir verkaufen das Haus, dann kannst du dir ein Luxusheim leisten. Warum das überstürzen?«
»Ich habe Angst, dass es schnell geht. Dass ich allein nicht mehr zurechtkomme.«
»Gut, ich werde bald eine Art Vorauswahl treffen, und dann schauen wir uns die an. Und ich frage immer Leute, die da wohnen, ob es einen Haken gibt.«
»Danke«, sagte die Mutter. Dann versank sie in sich.
Stachelmann hätte zu gerne gewusst, was die Mutter dachte. Ihm schien, sie wollte vor allem niemandem zur Last fallen. Aber sie hatte auch Grund genug, sich nicht auf ihn zu verlassen. Er hatte meist andere Dinge im Kopf. Jetzt dachte er wieder an die beiden Dateien, die Georgie ihm mailen wollte. Und er hatte noch nicht nachgeschaut, ob auch Donald Hamm in seiner Habilschrift auftauchte. Du bist ein Idiot, das hätte das Erste sein müssen, was du tust. Obwohl er erst einmal das tat, was er längst
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