Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Rohrschmidt, der 1938 in Buchenwald umgekommen war und dem er einen langen Absatz in seiner Habilschrift gewidmet hatte. In der Weimarer Zeit hatte er sich zur Republik bekannt, Deutschnationale und Nazis hatten ihn deswegen angefeindet. Im Ersten Weltkrieg hatte er vom ersten bis zum letzten Tag an der Westfront gedient, seit 1917 trug er das Eiserne Kreuz Erster Klasse, und nach der Kapitulation war er als Oberleutnant der Reserve aus dem Dienst geschieden. Im Herbst 1937 wurde er von der Universität entlassen.
Sein Nachfolger war Hamm geworden. Das hatte ihm der Kollege Abend berichtet. Es stimmte zeitlich überein mit den Vitae von Hamm und Rohrschmidt. Rohrschmidts offizieller Lebenslauf endete 1937. Seine Fortsetzung fand er im KZ Buchenwald. Das hatte Stachelmann einem Aufsatz in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte entnommen.
Inzwischen war Stachelmann sicher, dass es diese Passage in seinem Manuskript war, die Brigitte das Leben gekostet hatte. Sie war vor ihm auf der gleichen Spur gewesen, sie hatte Bohmings Bücher ausgeliehen. Sie hatte sich mit Hamm beschäftigt, und sie war im Weimarer Archiv gewesen. So weit er es überblickte, hatte Brigitte eine erstklassige historische Recherche unternommen. So gut, dass sie mit ihrem Leben dafür bezahlen musste, als sie den Täter mit ihren Ergebnissen konfrontierte. Auch sie dürfte einen Kontakt an der Kölner Universität gehabt haben. Aber wer das war, das würde Stachelmann kaum herausfinden. Er musste es auch nicht mehr.
In der Nacht wälzte er sich unruhig und schlief kaum. Wenn er döste, geisterten KZ-Szenen durch sein Hirn. Morgen würde er Akten bestellen und dann nach Buchenwald fahren. Die Weimarer wussten damals vom Lager in ihrer Nähe. Das Standesamt war zuständig für die Totenscheine, in denen man Menschen, die zu Tode gequält worden waren, Herzversagen oder Kreislaufschwäche bescheinigte. Wer das eintrug, log wissentlich. Die Beweise verschwanden mit der Leiche im Krematorium, erst in Weimar, dann baute das KZ sich eine eigene Verbrennungsanlage.
Am Morgen verzichtete er auf das Frühstück und eilte in die Marstallstraße. Glücklicherweise öffnete das Archiv schon um acht Uhr morgens. Stachelmann ging hinein in den klassizistischen Bau und betrat den Benutzersaal. Hinter einem Tisch saß ein Mann, der ihn neugierig anschaute.
»Stachelmann, guten Tag. Sind Sie Herr Oschatz?«
Der Mann lächelte freundlich. »Wir hatten miteinander telefoniert, nicht wahr?« Er kratzte sich an seinem Oberlippenbart.
»Genau. Ich suche den Vorgang Rohrschmidt, wie Sie wissen.«
»Na ja, einen Vorgang würde ich das nicht nennen. Es ist eine dünne Akte. Ich kann sie Ihnen aber erst heute Nachmittag geben. Sie ist gerade in Bearbeitung. Wir hatten zuletzt eine Besucherin, die hat sie eingesehen, und dann ist sie verschwunden und mit ihr einige Dokumente. Ein ungeheuerlicher Vorgang, zumal die Dame falsche Personalien eingetragen hat. Glücklicherweise hat sie nur Kopien gestohlen. Wir sind gerade dabei, die Akte aus den Originalen zu ergänzen und sie auf Personenschutzrechte zu prüfen. Das verstehen Sie doch gewiss.«
Warum hatte der Mann das nicht schon am Telefon gesagt? Stachelmann begriff, dass er womöglich Kopien mit geschwärzten Namen bekommen würde. »Um Himmels willen, Sie dürfen nichts schwärzen. Ohne die Namen sind die Akten wertlos.«
»Wir finden einen Weg, ganz bestimmt«, sagte Oschatz. »In den meisten Fällen sind diese Schutzrechte nicht mehr gültig. Kommen Sie gegen vierzehn Uhr wieder, dann kann ich Ihnen die Akte geben, und wir können alle Fragen klären.«
Stachelmann verabschiedete sich und trat hinaus in die Kälte. Die Ungeduld plagte ihn. Er konnte es kaum erwarten, diese Akte zu sehen. Auf dem Weg zum Parkplatz hinter dem Hotel musste Stachelmann grinsen. Kein Wunder, dass Brigitte so schnell war, sie hielt sich nicht unbedingt an den Dienstweg. Immerhin hat sie nur die Akten geklaut, die in Kopie vorlagen, wahrscheinlich weil die Originale schon verschlissen waren. Normalerweise wird man in einem solchen Fall an ein Gerät für Mikrofiches gesetzt, hier aber wurde kopiert. Vielleicht war die Verfilmung ins Stocken geraten, mangels Geld oder wegen eines technischen Fehlers. Ihm konnte es egal sein.
Am Parkplatz angekommen, stieg er in sein Auto und verließ die Stadt in Richtung Ettersberg. Es ging bergauf auf knapp fünfhundert Meter Höhe. Dort oben, dem Wetter schutzlos ausgesetzt, hatten Hunderte von
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