Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
herausgefunden hatte. Aber Taut war jetzt gewiss nicht ansprechbar.
Es klopfte an der Tür.
»Herein!«
Ein Polizeibeamter trat ein, hinter ihm ein zweiter.
»Herr Dr. Stachelmann?«
»Ja?«
»Wir passen ein bisschen auf Sie auf.« Der Beamte sprach so, wie man mit einem Kind spricht.
»Gut«, sagte Stachelmann. »Aber in diese Gegend wird der Irre sich nicht mehr trauen.«
Der Polizist nickte kaum merklich, antwortete aber nicht. Dann schloss er die Tür von außen.
»Gegen einen, der aus großer Entfernung schießt, hilft diese Bewachung nichts«, sagte Stachelmann.
»Und wenn du dir eine schusssichere Weste besorgst ...« »Und einen Helm.« Stachelmann lachte bitter. »Ich kann doch nicht gepanzert durch die Gegend laufen. So weit kriegt der mich nicht.«
»Trotz hilft auch nichts«, sagte Anne. Sie wollte das gesagt haben, obwohl sie wusste, dass Stachelmann stur sein konnte. Jetzt war er stur. Und vor allem zornig.
»So weit kriegt der mich nicht«, wiederholte Stachelmann.
»Willst du was essen?«
Stachelmann dachte an die Frau, die in der Cafeteria zusammengebrochen war. Ein Schock, der noch lange nachwirken dürfte. Er schüttelte den Kopf. Nein, Hunger war das Letzte, was er jetzt spürte. Dass sie an so etwas dachte. Jemand hat auf mich geschossen, jemand will mich von der Uni vertreiben, jemand will verhindern, dass meine Habilschrift veröffentlicht wird. Er dachte an die Mühe, die er in die Arbeit gesteckt hatte. Wie alles durcheinandergeraten war, als er sich in Heidelberg herumtrieb, statt die Arbeit fertig zu schreiben. Und wie er es dann doch geschafft hatte, auch wenn er überzeugt war, die Habilschrift sei schlecht, weit unter seinen Möglichkeiten. Ja, wenn er mehr Zeit gehabt hätte. Er erinnerte sich an die Verteidigung, als die Mitglieder der Prüfungskommission und die wenigen Zuhörer ihm gratulierten und er sich schämte, weil er nicht das geleistet hatte, was er hätte leisten können. Außerdem traute er der Euphorie nicht, die diese Leute zeigten. Sie waren gewiss nur erleichtert, dass er es endlich geschafft hatte.
Anne schaute ihn unentwegt an, als wollte sie seine Gedanken lesen.
Er erschrak, als das Telefon klingelte.
»Herr Schmid würde Sie gerne sprechen«, säuselte eine Frauenstimme. Es knackte, dann: »Schmid.«
Die Stimme klang belegt. Schmid war sonst immer gut gelaunt gewesen, hatte Stachelmann mit Lob überschüttet und ihn bei jeder Gelegenheit an die enormen Erwartungen erinnert, die sein Verlag mit dem Buch verband.
»Guten Tag«, sagte Stachelmann.
»Ja, äh, wir haben da ein Problem.« Das Wörtchen »wir« hatte Schmid vorher nicht gekannt.
»Und welches?«
»Also, es fällt mir jetzt nicht leicht. Auf Sie wurde geschossen, hörte ich?«
Was wollte der Verleger?, fragte sich Stachelmann.
»Ja. Da hat ein Irrer im Von-Melle-Park geschossen.«
»Ich hoffe, Sie sind unverletzt.«
»Ja.« Instinktiv fasste er sich an die Pflaster im Gesicht.
»Es ist mir unangenehm, Herr Dr. Stachelmann.«
»Was ist Ihnen unangenehm?« Stachelmann begann sich zu ärgern. Warum sagte Schmid nicht einfach, was er wollte?
»Es geht um Menschenleben. Gemessen daran müssen andere Dinge zurückstehen.«
»Gewiss«, sagte Stachelmann ungeduldig.
»Wenn wir Ihr Buch veröffentlichen, dann sind meine Mitarbeiter in Gefahr. Wissen Sie, um mich mache ich mir natürlich keine Gedanken. Aber der Verlag, die Kollegen ... Sie wissen, was ich meine.«
»Nein«, sagte Stachelmann, »ich weiß es nicht.«
»Ich habe einen Drohbrief bekommen. Mit ausgeschnittenen Buchstaben aus der Zeitung. Ich darf es Ihnen eigentlich nicht verraten. Die Leute, die uns diesen Brief geschickt haben, wollen nicht, dass er bekannt wird. Sonst hätten wir mit furchtbaren Folgen zu rechnen. Trotzdem habe ich es Ihnen gesagt. Ermessen Sie daraus das Vertrauen, das ich in Sie setze. Wenn der Spuk vorbei ist, werden wir Ihre Arbeit natürlich sofort veröffentlichen.«
»Aber Sie haben das Buch doch schon in Ihrer Programmvorschau angekündigt.«
»Schlimm genug«, sagte Schmid leise. »Es wäre schrecklich, wenn das diese Verbrecher mitbekommen. Dann müssten die glauben, das Buch werde doch erscheinen, und dann kann ich diesen Verlag dichtmachen. Wissen Sie, ich habe ihn von meinem Vater geerbt, der ihn durch die Nazizeit gebracht hat. Ich will nicht der Totengräber des Schmid Verlags werden.«
Kläglich verabschiedete sich Schmid. Er werde sich melden, sobald alles wieder in Ordnung sei.
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