Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
zwang sich, hinauszuschauen. Dann sah er Kreidestriche auf dem Pflaster des Von-Melle-Parks. Wie ein Spielbrett. Kinder malten so etwas auf die Straßen, um in den Kästchen zu hüpfen. Die nassen Steine glänzten, überall Pfützen. Von hier oben könnte man auch gut schießen. Wieder liefen die schrecklichen Minuten in seinem Kopf ab wie ein Film.
Später klopfte es an die Tür. Ein Mann mit einer grauen Jacke, die etwas Uniformartiges darstellen sollte, hielt einen Umschlag in der Hand. »Herr Dr. Stachelmann?«
Stachelmann winkte ihn heran, unterschrieb die Quittung, und der Mann wartete. Als Stachelmann ihm sagte, er werde ihm nichts mitgeben, verließ der Kurier grußlos das Zimmer, und Stachelmann öffnete den Umschlag. Darin fand er einen Auflösungsvertrag in zwei Ausfertigungen und einen Begleitbrief, der gewundener war als alles, was er bis dahin gelesen hatte. Schmid bot sogar eine Entschädigung an, was nur unterstrich, wie eilig er es hatte, seinen Autor loszuwerden. Pro forma natürlich. Stachelmann schob die Papiere an die Seite, legte seinen Kopf in die Hände und wünschte sich, weit weg zu sein.
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3
Eine weitere unruhige Nacht. Stachelmann hatte die Bilder mitgenommen nach Lübeck. Immer wieder stand er auf und lief durch die Wohnung. Er schaltete das Radio ein und bald wieder aus, weil in seinem Hirn für nichts anderes Platz war als für das, was er im Von-Melle-Park erlebt hatte. Wie ein Endlosfilm. Und darin verwoben die Frage, warum er bedroht wurde. Die Schrift an der Wand des Philosophenturms. Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, ich würde abhauen. Mich verkriechen. Ob er den Irrsinn jemals loswürde? Ob er ihn loswürde, wenn er woanders hinging? Nein, gewiss nicht, er würde ihn überall mit sich herumtragen. Erst wenn der Täter überführt war, könnte er die Angst loswerden. Vielleicht.
Er schaltete den Computer ein, zappte über ein paar Webseiten, aber er konnte sich nicht konzentrieren und verstand die Sätze kaum, die er las. Stachelmann startete das PC-Schachspiel, das er sich vor einigen Monaten gekauft und dann kaum genutzt hatte. Er erinnerte sich, wie er früher mit dem Vater Schach gespielt hatte. Der spielte erst ohne Dame gegen ihn und gewann trotzdem, dann verzichtete er nur noch auf einen Turm, schließlich auf einen Läufer. An einem Sonntagabend vor unendlich langer Zeit, Stachelmann ging noch aufs Gymnasium, übersah der Vater, dass seine Dame tödlich bedroht war, und er verlor sie durch eine Springergabel. Da gewann Stachelmann zum ersten Mal gegen den Vater, und seitdem hatte dieser ohne Handicap gegen ihn gespielt.
Er versuchte sein Glück mit einem Damengambit. Der Computer erwiderte klassisch, aber Stachelmann verzettelte sich schon früh und verlor einen Turm durch ein Abzugsschach. Nach wenigen Zügen gab er die Partie auf.
Er entschied sich, an die Uni zu gehen. Am späten Nachmittag lief sein Hauptseminar über »Widerstand und Kollaboration im Dritten Reich«. Er suchte in seiner Aktentasche, fand aber nicht die Seminararbeit, die besprochen werden sollte. Habe sie wohl im Büro vergessen wie so oft. Er zog seinen Mantel an und die Schuhe und verließ die Wohnung. Vor der Tür stand ein Polizeiwagen, darin zwei Beamte, der eine, er hatte einen dünnen Schnauzbart, nickte ihm zu und öffnete die Tür. Stachelmann ging ein paar Schritte auf die Polizisten zu.
»Wohin gehen Sie?«
»Zum Bahnhof, ich fahre nach Hamburg an die Uni.«
»Sollen wir Sie begleiten?«
»Danke, nein«, sagte Stachelmann.
Der Beamte hob die Augenbrauen, dann setzte er sich wieder hinters Steuer. Er startete den Motor, fuhr aber noch nicht los. Bald merkte Stachelmann, dass der Wagen ihm im Schritttempo folgte.
Er erinnerte sich an das Telefongespräch mit Bohming, der hatte ihn gestern angerufen, als er gerade zu Hause eingetroffen war.
»Sie sollten Ihr Seminar ausfallen lassen, jeder hätte dafür Verständnis. Zumal wohl in keinem Seminar etwas anderes diskutiert werden wird als dieser ...«
Stachelmann hatte einen Augenblick überlegt und dann gesagt: »Ich will mich nicht verkriechen. Egal wo ich bin, ich fühle mich bedroht. Also kann ich auch kommen. Zumal der Irre derzeit mehr darauf achten muss, nicht erwischt zu werden.«
»Das glauben Sie. So ein Verrückter, man weiß es ja nicht, aber vielleicht ist es ihm egal, vielleicht macht es ihm Spaß, der Polizei nur einen halben Schritt voraus zu sein.«
»Vielleicht«, hatte Stachelmann
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