Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
ein bisschen Futter gegeben.
Er legte die Zeitung beiseite und überlegte zum x-ten Mal, was hinter den Schüssen stecken mochte. Aber alles, was ihm einfiel, roch zu stark nach Kino oder einem dieser Politkrimis, die jetzt so in Mode waren. Dass er unabsichtlich ein Nazi-Netzwerk in Panik versetzt hatte und diese Leute sich nun als Antifaschisten tarnten, um ihn auszuschalten. Dass dem Sohn oder Enkel eines KZ-Häftlings irgendeine Aussage in seiner Arbeit nicht passte, weil er glaubte, die Ehre des Vaters oder Großvaters werde befleckt. Dass dieser E.T. einfach ein durchgeknallter Wichtigtuer war, der auf Stachelmann eifersüchtig war, weil der es geschafft hatte. So was gab es nur in Filmen. Doch hatten Filme etwa keinen Einfluss auf die Wirklichkeit? Er erinnerte sich an Bilder aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg, auf denen er Soldaten entdeckt hatte, die sich zurechtgemacht hatten wie Rambo oder andere Vorbilder aus Kriegsfilmen. Sie wollten so sein wie ihre Filmhelden. Und wenn der Schütze vom Von-Melle-Park auch einem Vorbild folgte? Ja, vielleicht war es wie im Kino, wie in einem schlechten Film. Wer kannte solche Filme? Stachelmann überlegte, aber ihm fiel niemand ein, der ihm weiterhelfen konnte. Er schaute sich Kriegsfilme nicht an, weder die seriösen noch die unseriösen.
E.T.s Ankündigung fiel ihm wieder ein. Wer könne, solle sich den Philosophenturm angucken. Was bedeutete es? Stachelmann griff zum Telefon, aber dann schaute er auf die Uhr. Viel zu früh, um dort anzurufen. Er schlug sich an den Kopf. Warum hatte er die Polizei nicht informiert, dass E.T. etwas plante am Philosophenturm? Weil dieser Bild -Zeitungs-Typ ihn abgelenkt hatte. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wahr ist, dass du durcheinander bist, nicht weißt, was du tust. Der Grund dafür ist die Angst. Sie lässt dich Fehler machen, welche die Angst nur weiter verstärken. Wenn jemand dich zugrunde richtet, dann du selbst. Auch wenn sich in dir alles dagegen wehrt, diesen Irrsinn anzunehmen, du musst akzeptieren, dass die Dinge so sind. Dass einer hinter dir her ist. Wieder. Dass der Grund dafür deine Habilschrift ist. Da wehrte sich sein Verstand. Der Grund ist, dass der Typ verrückt ist. Dass er etwas in deiner Arbeit vielleicht so versteht, wie er es verstehen will. Du kannst lange nach Stellen suchen, die in Frage kämen, es würde nichts nutzen. Weil du nicht weißt, wie der Kerl das liest und versteht. Es gibt keine Eindeutigkeit, nicht einmal in deinem Text, der Leser nimmt nicht nur auf, das Lesen selbst prägt das Verständnis. Genauso wichtig wie dein Text ist das Vorverständnis des Lesers, dieses Lesers, der ein potenzieller Killer ist. Man müsste in seinen Kopf schlüpfen, um ihm so auf die Spur zu kommen. Stachelmann lachte resignierend. Wenn man ihm in den Kopf schlüpft, hat man ihn schon, dann braucht man ihn nicht mehr zu suchen.
Er blätterte in der Zeitung, um die Zeit totzuschlagen. Das Hirn arbeitete weiter, vor allem die Angst. Sollte er heute nach Hamburg fahren? War es nicht zu gefährlich?
Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Schreibtisch, schaltete den Laptop ein und rief die Geschichts-Diskussionsgruppe auf. Wieder ein neuer Eintrag. Ein Kyffhäuser zitierte einen Teil von E.T.s letztem Schreiben und kommentierte:
E.T. schrieb:
݆brigens, der Philosophenturm an der Hamburger Uni ist echt
interessant. Wer's nicht glaubt, sollte ihn sich mal angucken.‹
War da. Geil, echt geil! Und überall Bullen! Wie im Zoo!
Jetzt hielt er es nicht mehr aus, er musste zur Uni trotz seiner Angst. Eilig zog er sich an, steckte den Laptop in die Aktentasche und ging hinaus ins Schneetreiben. Flocken tanzten im Schein der Straßenlaternen und schmolzen, wenn sie auf dem Asphalt landeten. Das Wasser sammelte sich in Pfützen. Gedankenverloren tappte Stachelmann in eine Pfütze, bald drang die kalte Feuchtigkeit durch Schuh und Socke. Das Hosenbein war nassgespritzt, Schmutzflecken würden bleiben. Im Zug nestelte er in seinen Taschen, holte den Computer aus der Aktentasche und steckte ihn wieder hinein. Ihm gegenüber saß eine Frau mittleren Alters mit einer Wintermütze, die beobachtete, was er trieb. Er glaubte, sie belächelte ihn insgeheim. Nachdem er endlich am Dammtor aus der S-Bahn gestiegen war, rannte er fast zur Universität. Bald sah er Polizeiautos. Der Eingang zum Philosophenturm war abgesperrt mit einem weißroten Band. Innerhalb der Absperrung erkannte Stachelmann Leute
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