Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Brigitte Stern E.T., oder kannte sie ihn wenigstens? Irgendwie kam Stachelmann diese Vorstellung lächerlich vor. Ein alberner Name aus einem kitschigen Film. Doch dann entsann er sich, wie sie ihn angeschaut hatte. War Hass in ihrem Blick gewesen? Verachtung? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Es war doch sowieso alles Unsinn. Aber wenn man keine Spur hatte, musste man der Eingebung folgen. Die hatte ihm gesagt, dass Brigitte Stern ihn fixiert hatte wie eine Laborratte, auch wenn er sich jetzt nicht mehr vorstellen konnte, wie das ausgesehen hatte. Gab es diesen Blick nur in seiner Einbildung? Ein Hirn bildet die Außenwelt nicht einfach ab, sondern gestaltet das Bild, je nachdem, wie das Innenleben des Betrachters aussieht. Manchen wärmte die Sonne im Regen, wenn er glücklich war. Aber darüber wollte er nicht nachdenken. Er hatte in den letzten Jahren zu wenig Glück gehabt. Und wenn es ihm gewinkt hatte, dann hatte er es ausgeschlagen. Selbst schuld.
Da war sie. Sie kam aus dem Haus. Sie trug eine enge Hose, die ihre langen Beine betonte, und einen dunkelblauen Anorak, die Kapuze versteckte die Haare, aber nicht das Gesicht. Sie war schön. Erst jetzt fiel es ihm auf. Sie erreichte mit schnellen Schritten den Siemersplatz und bog dort in die Osterfeldstraße ein, bald kam sie auf den Lokstedter Weg. Sie schaute sich nicht um, schien versunken in Gedanken. Stachelmann begann zu schwitzen. Am Ernst-Thälmann-Platz hielt sie an. Stachelmann kannte diesen Ort. In der Tarpenbekstraße 66, direkt an dem nach dem ehemaligen KPD-Vorsitzenden benannten Platz, lag die Thälmann-Gedenkstätte, im Erdgeschoss des Hauses, in dem er bis 1933 gewohnt hatte. Brigitte Stern betrat die Gedenkstätte, und Stachelmann überlegte, wie lang er würde warten müssen. Wieder verstärkten sich die Schmerzen beim Stehen. Er streifte durch die Gegend, behielt aber die Tür der Gedenkstätte im Auge. Gab es eine Hintertür, durch die sie verschwinden könnte? Vielleicht hatte sie bemerkt, dass sie verfolgt wurde. Stachelmann versuchte sich zu beruhigen. Nein, das war unwahrscheinlich, sie hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht.
Dann fiel es ihm ein. E.T. war nicht der Alien aus dem Film, sondern Ernst Thälmann. Den die Nazis in Buchenwald erschossen hatten und dessen Mörder straflos davongekommen waren, weil die bundesdeutsche Justiz sie nicht verurteilen wollte. Sie hatte sogar bezweifelt, dass es überhaupt Mord gewesen sei, denn schließlich habe der KPD-Führer möglicherweise gewusst, was ihm bevorstand, als er nachts ins KZ Buchenwald gebracht worden sei, direkt zum Krematorium, wo sie ihn gleich nach der Ankunft erschossen haben. Und wenn er es gewusst habe, fehle die Heimtücke, ohne die der Straftatbestand des Mordes nicht erfüllt sei. Und diejenigen, die geschossen hatten, betrachteten die Gerichte als Gehilfen der eigentlichen Mörder Hitler, Himmler, Kaltenbrunner, die bedauerlicherweise nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könnten. Einer der Mörder wurde Lehrer in Nordrhein-Westfalen.
Was wollten diese drei Typen dort? Sie standen vor der Plakette am Eingang der Gedenkstätte und lachten. Die jungen Kerle hatten Glatzköpfe, zwei von ihnen trugen schwarze Schnürstiefel, alle drei olivgrüne Parkas, offenbar aus Bundeswehrbeständen. Einer hatte auf den Parkarücken in Schwarz ein Kreuz in einem Kreis gemalt, dem nur vier kurze Striche zum Hakenkreuz fehlten. Was suchten Nazis an der Thälmann-Gedenkstätte? Da bahnte sich etwas an, das war klar. Stachelmann hatte schon das Handy in der Hand, um die Polizei zu rufen. 110. Aber noch wählte er nicht. Es war nichts passiert. Was sollte er der Polizei sagen? Drei Nazis stehen in der Tarpenbekstraße 66 und lachen. Tatsächlich, sie unterhielten sich und lachten. Es klang wie ein Grölen. Ob sie getrunken hatten? Dann wählte er doch.
Als sich nach dem zweiten Rufton ein Polizist meldete, sagte Stachelmann: »Drei Nazis stehen vor der Thälmann-Gedenkstätte in der Tarpenbekstraße 66. Die haben etwas vor.«
»Woher wissen Sie, dass es Nazis sind?«
»Springerstiefel, Glatzen, der eine hat sich ein kaum getarntes Hakenkreuz auf den Parkarücken gemalt. Reicht Ihnen das?«
Der Polizist schwieg, dann sagte er: »Und was haben die getan?«
»Die haben etwas vor, das spüre ich, das sehe ich. Die sind nicht gekommen, um die Gedenkstätte zu besichtigen.«
»Sie spüren das?«
»Kommen Sie, schnell!«, sagte Stachelmann und brach das Gespräch ab.
Die
Weitere Kostenlose Bücher