Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
er zog, sie stand auf. »Nein, ist nicht viel passiert.« Sie fasste sich an die Wange, zuckte zusammen und sagte: »Komm, wir gehen.« Die Polizisten beachtete sie nicht. Die standen unschlüssig daneben.
»Wollen Sie keine Anzeige erstatten?«, fragte der mit der schlechten Laune. Er hatte weiße Haare und einen Bauch, der die Jacke wölbte.
Stachelmann schaute Brigitte an, die schüttelte den Kopf, und Stachelmann sagte: »Nein. Wären Sie gekommen, als ich Sie gerufen hatte« – Brigitte schaute ihn wieder neugierig an –, »dann müssten Sie das nicht fragen. Es muss immer erst etwas passieren, bis Sie kommen. Wenn wir jetzt eine Anzeige aufgeben, geht das doch aus wie das Hornberger Schießen.«
»Wie was bitte?«, fragte der andere Polizist, jung, markiges Gesicht, trainierter Oberkörper und weniger Sterne auf der Schulter als sein Kollege.
»Es bringt nichts, heißt das«, sagte Stachelmann. »Warum sind Sie den Kerlen nicht hinterhergefahren? Sie hätten sie kriegen können.«
Die beiden Polizisten wechselten einen Blick, dann nickte der Ältere und legte den Zeigefinger an den Hutschirm. Sie setzten sich ins Auto und fuhren zurück in Richtung Thälmannplatz.
Brigitte hakte sich ein bei Stachelmann. Sie humpelte erst leicht, dann fand sie ihren Schritt, blieb aber eingehakt. »Du bist mir gefolgt«, sagte sie. »Seit wann?«
»Seit du das Haus verlassen hast.«
»Du glaubst, ich habe mit den Schüssen an der Uni etwas zu tun?«
Stachelmann antwortete nicht. Schweigend liefen sie bis zu dem Haus, in dem Brigitte wohnte. »Komm«, sagte sie. Er zögerte, dann folgte er ihr. Sie stieg vor ihm die Treppe hoch, im dritten Stock öffnete sie die Wohnungstür, darin eingelassen ein Milchglasfenster mit Vorhang. Er atmete schwer. Sie grinste: »Nichts mehr gewöhnt, was?« Aber sie schnaufte auch ein wenig. Im Flur hing ein Poster mit Jim Morrison, auf einer Kiefernholzkommode stand ein Telefon. Sie zeigte auf eine Zimmertür. »Das ist meins. Ich komme gleich.«
Sie verschwand hinter einer Tür am Ende des Gangs. Dort war das Bad, gegenüber von Brigittes Zimmer gab es zwei weitere Türen. Eine mochte in die Küche führen. Stachelmann betrat Brigittes Zimmer. Viel Platz hatte sie nicht. Ein breites Bett, darauf eine Decke mit mexikanischen Motiven. Ein kleiner Schreibtisch vor dem Fenster, das mehr Licht eingelassen hätte, wenn es geputzt worden wäre. Ein kleine Musikanlage, ein klobiger alter Fernseher, darauf eine Zimmerantenne. An der Wand Fotos. Wohl die Familie. Ein Veranstaltungsplakat neben dem Schreibtisch zeigte Porträts, unter anderem von Ernst Thälmann und Georgi Dimitroff, der nach seinem Sieg im Leipziger Reichstagsbrandprozess 1933 die Kommunistische Internationale in Moskau geleitet hatte. Die Toilettenspülung rauschte, die Badezimmertür wurde entriegelt. Es war hellhörig in der Wohnung. Dann stand Brigitte im Zimmer. Sie hatte sich ein Pflaster auf die Wange geklebt.
»Geht es Ihnen besser?«
»Wir hatten uns geduzt?«
Stachelmann überlegte, dann sagte er: »Gut.« Warum nicht?
»Dabei hätte ich mehr Grund, dich nicht zu duzen. Wenigstens bis vorhin.«
»Warum?«
»Weil du Antifaschisten verleumdest.«
»Wie bitte?«
Sie zeigte auf das Plakat. »Thälmann«, sagte sie nur.
»Ja und?«
»Du hast ihn denunziert im Seminar. Und in deiner Habilschrift wohl auch.« Sie stand immer noch nahe an der Tür.
»Viel wichtiger, warum wolltest du die nicht anzeigen?«
»Die Bullen bewundern diese Schläger doch insgeheim. Endlich mal jemand, der mit uns aufräumt.«
»Uns?«
»Na, Linke, Antifaschisten, wenn dir das was sagt.«
Stachelmann nickte. So hatte er sich auch einmal verstanden. »Aber zurück zu Thälmann, über den hab ich nicht viel geschrieben und auch nichts Neues. Von 1924 bis 1933 war er KPD-Vorsitzender, mit einer kurzen Unterbrechung, und, um es unwissenschaftlich zu sagen, Stalins bester Freund bei den deutschen Kommunisten. Fachsprachlich nennt sich das Bolschewisierung der KPD, auf Deutsch: Unterwerfung der KPD unter Moskau. Einverstanden?«
»Nein«, sagte sie. Sie setzte sich aufs Bett. Stachelmann sah, dass sie Schmerzen im Bein hatte. »Thälmann hat gegen die Faschisten gekämpft. Er hat auch unter der Folter keine Zugeständnisse gemacht, und die Nazis haben ihn ermordet, weil er ihr gefährlichster Gegner war.«
»Der saß im Zuchthaus, da war er nicht gefährlich.«
»Ach, lass«, sagte sie. »Das kapierst du sowieso nicht.«
Er lachte.
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