Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Schließlich eine lange Schlanke mit Pagenfrisur und einer roten Bluse, sie blätterte in einem schmalen Buch, dessen Titel Stachelmann nicht erkennen konnte.
Einer von diesen neun hatte etwas mit der Kampagne zu tun. Womöglich auch mit dem Schützen. Oder war der Schütze. In diesem Augenblick war Stachelmann davon überzeugt. Er musste es sagen, auch wenn es vielleicht ungeschickt war und den Täter warnte. »Eine oder einer von Ihnen hat mit der Sache zu tun. Vielleicht sollten wir hier darüber diskutieren, was diejenige oder denjenigen stört. So sehr stört, dass er oder sie eine Diskussion, nennen wir das mal so, in einem Internetforum angezettelt hat.« Er beobachtete die Reaktionen der Seminarteilnehmer. Nur die Studentin mit der roten Bluse schaute Stachelmann an. Andere taten so, als wären sie nicht gemeint. Der Gegelte und die Schöne tuschelten. Aber diesmal lachte sie nicht, er sowieso nicht. Die beiden schließe ich aus. So sehen politische Aktivisten nicht aus. Das ist zwar ein Vorurteil, aber es ist nützlich. Irgendwie muss ich die Zahl der Verdächtigen eingrenzen. Wenn überhaupt einer im Seminar mit der Sache zu tun hat. Die Sherlock-Holmes-Methode: Schließe die Unverdächtigen aus, wer übrig bleibt, ist der Täter.
Stachelmann sagte eine Weile nichts und beobachtete, wie es den Teilnehmern unangenehm wurde.
Die Frau mit Bubikopf und Narbe meldete sich und sagte, ohne darauf zu warten, dass Stachelmann ihr das Wort erteilte: »Das finde ich nicht in Ordnung, dass Sie uns pauschal verdächtigen. Also, ich komme mir jedenfalls blöd vor. Obwohl ich mit der Geschichte nichts am Hut habe.«
Sie hatte recht. Sie war ins Seminar gekommen, um etwas zu lernen, und nicht, um verdächtigt zu werden.
»Gewiss«, sagte Stachelmann. »Aber es geht um versuchten Mord und um meine Habilitation, ganz egoistisch. Da ich nur weiß, dass ein Seminarteilnehmer in diesem Internetforum mitmacht und dieser vielleicht sogar ein schießwütiger Irrer ist« – welch Übertreibung, dachte Stachelmann. In Wahrheit wusste er nichts, sondern spekulierte –, »bitte ich um Verständnis, dass ich das hier anspreche. Möglicherweise hat der Betreffende sogar den Mut, sich zur Beteiligung an der Kampagne gegen mich zu bekennen. Ich bin jedenfalls bereit, hier oder bei einem Extratermin über meine Ansichten und die Kritik an ihnen zu diskutieren.«
Wieder schaute er in die Runde. Es war ihm peinlich, die Teilnehmer mit seinen Blicken zu beleidigen, denn in ihnen lag die Vermutung, jeder könne der sein, den er suchte.
Die Frau mit dem Bubikopf stand auf, packte Stifte und Papier in ihren Rucksack und ging grußlos.
War sie es?
Nein, Stachelmann bildete sich ein, es könne nur ein Mann sein. Jedenfalls dann, wenn der Kampagnenteilnehmer derselbe war wie der Schütze. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass eine Frau sich mit einer Kriegswaffe auf ein Dach legte und auf Leute schoss. Wenn er schon spekulierte und den Kreis der Verdächtigen verkleinern wollte, dann schied die Frau mit dem Bubikopf aus. Der Täter würde sich nicht verdächtig machen, indem er sich der Diskussion entzog. Nein, die Frau gehörte nicht zum Kreis der Verdächtigen. Fürs Erste jedenfalls.
»Offensichtlich ist der Bekloppte nicht hier. Oder er ist es und traut sich nicht«, sagte der mit den Zotteln. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf. Stachelmann irritierte es, dass er die Augen nicht mehr sah. In Augen konnte man lesen. Aber würde der Killer sich so auffällig benehmen? Womöglich tat er es mit Absicht, weil er unterstellte, dass Stachelmann annahm, Killer verhielten sich unauffällig. Um die Ecke gedacht. Stachelmann musste innerlich grinsen. Es war doch bescheuert, was er hier versuchte. Niemals kam er so an den Typen oder die Leute heran, die ihm diesen Irrsinn eingebrockt hatten. Aber was, verdammt, sollte er tun?
Nur die Studentin mit der roten Bluse beobachtete unentwegt und ohne es zu verbergen, was Stachelmann tat.
»Gesetzt der Fall, der Kampagnenbetreiber ist nicht der Schütze, so kann er sich doch melden, ohne etwas befürchten zu müssen.«
»Na ja, Sachbeschädigung«, sagte die Frau mit der roten Bluse. »Wegen der Parolen an der Wand.«
»Gut, den Schaden übernehme ich, wenn der Betreffende sich meldet.« Wieder schaute er in die Runde. Nur die Frau mit der roten Bluse erwiderte seinen Blick. Hatte sie etwas zu tun mit der Kampagne? Mit den Schüssen? Er versuchte sich vorzustellen, wie sie auf dem Dach der
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