Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
WiSo-Fakultät lag, das G3 im Anschlag. Es erschien ihm absurd. Wenn sie die Schulter nicht gepolstert hatte, hätte der Rückstoß ihr vielleicht blaue Flecken eingebracht, die man jetzt noch sehen müsste. Er schaute auf ihre Schultern, sie erwiderte die Neugier mit einem erstaunten Blick. Am liebsten hätte er alle Seminarteilnehmer gebeten, die Schultern freizumachen. Fast hätte er laut gelacht. Wirres Zeug. War es noch die Angst oder schon die Vorstufe der Verrücktheit?
»Der Typ muss doch gar nicht aus dem Seminar kommen«, sagte die mit der roten Bluse. »Es haben doch auch andere Leute Ihre Arbeit gelesen. Die Prüfungskommission, der Verlag, Setzer und Korrektoren und wer weiß, wer noch.«
Sie hatte recht, und er hatte sich verrannt. Er sah erst jetzt, sie hatte Sommersprossen im Gesicht.
»Wer von Ihnen kennt dieses Geschichtsforum im Internet?« Ein letzter Versuch.
Er schaute einen nach dem anderen an. Der mit den Zottelhaaren meldete sich vorsichtig, die mit der roten Bluse sagte: »Ich auch.« Dann noch der Gegelte. Und jetzt? Würde der Kampagnentyp sich selbst entlarven? Du machst einen Fehler nach dem anderen. Du willst ein Ende der Kampagne erzwingen, aber du erreichst vermutlich das Gegenteil. Wenn dieser Typ in deinem Seminar sitzt, ist er gewarnt. Und er weiß, dass dich die Kampagne trifft. Das wird ihn ermuntern weiterzumachen.
Er schloss die Sitzung abrupt, lange vor der Zeit. Die Teilnehmer schauten ihn erstaunt an, tuschelten, die Schöne lachte kurz, eher künstlich. Aber Stachelmann achtete nicht darauf, sondern verschwand grußlos aus dem Raum. In seinem Büro setzte er sich an den Schreibtisch und versuchte sich einzureden, dass es sinnvoll war, was er getan hatte. Aber es war Quatsch. Wenn er etwas erreicht hatte, dann das Gegenteil von dem, was er gewollt hatte. Nicht dein Verstand leitet dich, sondern Panik. Aber es ist kein Wunder, andere würden auch ausrasten, wenn sie unter solchen Druck gerieten, wenn ihr Leben in Gefahr wäre. Er dachte an die Studentin mit der roten Bluse. Sie hatte ihn beobachtet, als wäre er ein Versuchstier. Wenn jemand im Seminar sich verdächtig gemacht hatte, dann sie. Sie hatte versucht, den Verdacht auf andere zu lenken. So könnte sich jemand verhalten, der verstrickt war und sich verbarg.
Das Telefon klingelte, es war Anne.
»Wie war es im Seminar?«
Er erzählte ihr kurz von dem Unsinn, den er angestellt hatte.
»Warte ab, was nun geschieht. Vielleicht veranlasst es diese Leute, etwas über sich zu verraten. Diese Studentin mit der roten Bluse zum Beispiel, die dich dauernd fixiert hat.«
»Ich kam mir vor wie eine Laborratte.« War es nicht sogar eine Art Duell gewesen? Du übertreibst, weil du einen Ansatzpunkt suchst.
»Du kennst ihre Adresse, setz doch einen Privatdetektiv auf sie an.«
Er überlegte eine Weile, dann sagte er: »Warum eigentlich nicht? Aber besser, ich mache es selbst.«
»Und wenn sie dich erkennt?«
»Dann red ich mich raus. Womöglich fühlt sie sich herausgefordert und macht einen Fehler. Ich will das offensiv angehen, sonst dauert es ewig. Den Spieß umdrehen.«
»Wie du es immer machst, wenn es eng wird, ich weiß. Es nutzt ja auch nichts, dir abzuraten.«
»Nein, gar nichts.«
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4
Er hatte in der Anmeldeliste für sein Seminar den Namen und die Anschrift der Studentin mit der roten Bluse gefunden. Brigitte Stern, Ahornallee 16 in Eimsbüttel. Er war früh aufgewacht, hatte aufs Frühstück verzichtet und stand nun im Schatten einer noch laublosen Buche, wo er die Haustür im Blick hatte und hoffen konnte, selbst nicht gesehen zu werden. Er wartete lange, und die Knie schmerzten, obwohl er vorsorglich eine Diclofenac-Tablette genommen hatte. Stachelmann tänzelte, bis es ihn anstrengte, Bewegung half gegen Schmerzen. Er war froh, dass er nun etwas tat, das die Angst verdrängte. Sie verschwand zwar nicht völlig, aber so lähmte sie ihn nicht. Hier würde niemand auf ihn schießen, denn wer sollte wissen, dass er hier war, um einer Studentin nachzustellen? Er erinnerte sich, wie er das letzte Mal vor einer Haustür gelauert hatte, um jemandem zu folgen, Leopold Kohn, einem alten Mann, den der Hass überwältigt hatte.
Es fing an zu nieseln. Dann meldeten sich Zweifel. Du bist verrückt, eine Studentin zu verfolgen, nur weil die dich öfter angeschaut hat. Du hast dir eingeredet, jemand in deinem Seminar muss etwas zu tun haben mit diesem E.T., wenn er oder sie es nicht selbst war. War
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