Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
einmal, diesmal lang. Aber es tat sich nichts. Was sollte er tun? Er begann sich zu ärgern. Das war nicht die feine Art, ihn zu versetzen. Sie hatte wohl Angst bekommen vor dem eigenen Bekennermut. Sie drückte sich. Aber sie konnte doch nicht glauben, dass er sie in Ruhe ließ, weil sie die Tür nicht öffnete. Plötzlich war er überzeugt, sie war in der Wohnung, vielleicht beobachtete sie ihn sogar. Er drückte auf den Klingelknopf darüber. Wieder tat sich nichts. Die nächste Klingel, oder besser gleich zwei auf einmal. Er war ungeduldig. Der Türöffner schnarrte. Stachelmann drückte die Tür auf. Schnelle Schritte im Treppenhaus. Ein junger Mann, sportlich, groß gewachsen, Dreitagebart, baute sich vor Stachelmann auf. »Und was wollen Sie?« Er roch übel aus dem Mund.
»Ich möchte zu Frau Stern.«
»Und warum klingeln Sie dann bei mir?«
Dann eine Frauenstimme von oben: »Haben Sie bei uns geklingelt?«
»Nein!«, rief Stachelmann. »Ich will zu Frau Stern«, sagte er zu dem Mann. »Sie öffnet nicht, ich mache mir Sorgen. Wir sind verabredet.«
Der Typ ließ seine Augen von oben nach unten an Stachelmanns Körper entlangwandern und dann wieder zurück. Verachtung lag in seinem Blick, als er Stachelmann anschaute. »Sind Sie ihr Vater?«
»Ich glaube, das geht Sie nichts an.«
Der Typ rückte Stachelmann so nah, dass sie sich fast berührten, als wüsste er, wie sehr sich Stachelmann vor seinem Mundgeruch ekelte. Er starrte ihm einige Sekunden in die Augen. Dann schnaufte er einmal, tippte mit dem Finger an die Stirn, ging an Stachelmann vorbei zur Haustür und dann hinaus.
Jetzt war Ruhe im Treppenhaus. Stachelmann stieg hinauf in den dritten Stock und klingelte an der Wohnungstür. Nichts. Er horchte, hielt den Atem an, um besser zu hören. Nichts. Ob sie schlief? Mit Stöpseln in den Ohren?
Er schlug mit der Faust gegen die Tür und erschrak selbst über den Krach. Er horchte und hörte nichts. Gegenüber öffnete sich quietschend eine Tür, eine Frau, vielleicht vierzig, mit blondierten Haaren starrte ihn an. »Was ist los? Warum machen Sie solchen Lärm?«
»Ich fürchte« – Stachelmann schluckte und hustete –, »ich fürchte, es ist ihr etwas passiert.« Jetzt, wo er es aussprach, war er sicher, dass Brigitte etwas geschehen war. Er sah im Geist ihre Leiche auf dem Boden liegen. Mit einem Blutfleck auf der Brust.
»Wem?«, fragte die Frau mit schneidender Stimme.
»Brigitte, also, Frau Stern.«
Die Frau starrte ihn an und überlegte wohl, ob er irre sei. Nun sah er, dass sie stark geschminkt war. Anscheinend war sie inzwischen zu der Überzeugung gekommen, er sei nicht durchgeknallt. Jedenfalls fragte sie: »Was nun?«
»Die Polizei«, sagte Stachelmann. »Rufen Sie die Polizei. 110.«
Die Frau starrte ihn wieder an, endlich verschwand sie in ihrer Wohnung. Er hörte, wie sie aufgeregt telefonierte, von einem Verbrechen sprach und dass ihrer Nachbarin etwas Schlimmes zugestoßen sei.
Dann stand sie wieder in der Tür ihrer Wohnung. »Sie kommen«, sagte sie. Ihr Kinn zitterte.
Stachelmann setzte sich auf eine Stufe. Die Haustür wurde geöffnet, ein Luftzug im Treppenhaus. Dann Schritte, immer näher. Er erschrak. Wenn Brigitte jetzt die Treppe hochstieg und stöhnte, sie habe den Zug verpasst, es tue ihr leid, dann hätte er sich lächerlich gemacht. Aber was soll's, er hatte sich schon so oft lächerlich gemacht, da kam es nicht mehr an auf ein weiteres Mal. Er sah eine alte Frau die Treppe hochsteigen. Stachelmann rutschte zur Seite, die blondierte Frau sagte: »Guten Tag, Frau Radke.« Die guckte erst auf Stachelmann, dann auf die Blondierte, schließlich zuckte sie die Achseln und mühte sich die nächste Treppe hoch. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, drehte sich um, betrachtete Stachelmann und die Blondierte erneut, atmete einmal durch, um sich dann wieder wegzudrehen und die Treppen weiter hinaufzusteigen. Bald hörte Stachelmann, wie eine Tür zuklackte.
Die Blondierte lehnte weiter am Türrahmen, sie biss auf einem Kaugummi herum, als wäre der ein Knochen. Der Duft ihres Parfüms waberte aus ihrer Wohnung. Es roch schwer und aufdringlich. Stachelmann begann zu überlegen, wie sie ohne Schminke und Haarfärbung aussähe, aber er gab es gleich wieder auf. »Die brauchen aber lang«, seufzte sie.
Stachelmann hätte fast erwidert, sie brauche ja nicht zu warten. Es gehe sie ohnehin nichts an. Aber er hatte sie telefonieren geschickt, statt das Handy zu benutzen.
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