Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
beschwert, dass ich Sie alle beim Vornamen nenne, während Sie weiter Herr Birnbaum zu mir sagen müssten. Ich sagte ihr, das sei ein Missverständnis und dass sie mich selbstverständlich ebenfalls gerne beim Vornamen nennen dürfe, aber da wurde sie erst recht wütend. Sie bestand darauf, von nun an nur noch mit Frau Klostermann angeredet zu werden. Wie reden Sie und die anderen mich eigentlich an, Johanna?«
»Hööö«, keuchte ich. Vor meinen Augen hatten sich rote Schleier gebildet. Wenn ich hätte sprechen können, hätte ich Birnbaum gern erklärt, dass ich ihn, um die Klippe geschickt zu umschiffen, in der Regel gar nicht ansprach. Und wenn ich über ihn sprach, dann hieß er schlicht Birnbaum. Ohne Herr. Damit kam er bei mir noch mit Abstand am besten weg. Leroy nannte ihn den »Mutierten«, für Marianne war er in der Regel »der fiese Oberarsch«, auch ohne Herr, und Carla nannte ihn abwechselnd »die Geißel der Menschheit« oder nur den »hundsgemeinen Kotzbrocken«.
»Ich denke, dass es in einer Zeitschriftenredaktion ruhig weniger steif zugehen darf als in der Vorstandsetage einer Bank? Was denken Sie?«, fragte Birnbaum.
Ja, was dachte ich? Es war schwer in Worte zu fassen: Mein ganzes Leben lief in Bildern an mir vorbei.
Da, endlich eine Nebenstraße!
»Das wird schon!«, keuchte ich und setzte mit allerletzter Kraft hinzu: »Da geht’s nach Hause! Viel Spaß noch! Und bis morgen.«
»Ja, natürlich«, sagte Birnbaum etwas wehmütig. »Gute Nacht, Johanna.« Zu meiner großen Erleichterung trabte er mit seinem Hund geradeaus weiter. Ich warf mich bäuchlings über eine Mülltonnenabtrennung und hechelte etwa fünf Minuten, bis sich die roten Schleier vor meinen Augen lichteten. Dann schlich ich mich auf dem kürzesten Weg nach Hause. Auf dem ganzen Rückweg lag mein Puls im Fettverbrennungsbereich, und das obwohl ich mehr kroch als ging.
Zu Hause im Bad betrachtete ich mein puterrotes Gesicht im Spiegel und verfluchte mein Schicksal. Ich malte mir, Carlas Regeln zum Trotz, vier dunkle Wolken in den Kalender: eine dafür, dass ich vergessen hatte, die arme Vivi zu wecken, eine dafür, dass ich die arme Toni im größten Chaos allein gelassen hatte, eine dafür, dass ich mich vor Birnbaum beim Joggen blamiert hatte, und die vierte dafür, dass ich bei all diesen Unerfreulichkeiten nicht einmal etwas Leckeres gegessen hatte.
Den Kalender legte ich in meine Nachttischkommode, gleich neben eine Tafel Pfefferminzschokolade.
Pfefferminzschokolade! Ich hatte sie vor ein paar Wochen gekauft und für alle Fälle in den Nachttisch gelegt. Falls mir einmal sehr nach Pfefferminzschokolade zumute sein sollte.
Genau das war jetzt der Fall.
11. Kapitel
Datum:
05.03. 23.11 Uhr
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Betreff:
Keiner liebt mich
Lieber Boris!
Kennst du eigentlich so etwas wie Schuldgefühle? Vermutlich nicht, meiner Erfahrung nach haben Männer keine Schuldgefühle, es ist mehr eine frauenspezifische Sache, und Frauen sind auch noch besonders gut darin, sich gegenseitig welche zu machen.
Meine Schwester Toni zum Beispiel ist eine Meisterin darin. Die Schuldgefühle, die ich ihr zu verdanken habe, wiegen mindestens zehn Kilo, und das ist in etwa auch die Menge Spargel, die mein kleiner Neffe heute im Supermarkt vernichtet hat. Meine Schwester sagt, der Filialleiter sagt, es handelt sich um Spargel im Wert von mehreren hundert Euro, weil es zu allem Überfluss auch noch welcher aus biologisch-dynamischem Anbau gewesen ist. Die Geschichte ist schnell erzählt:
Finn war für kurze Zeit allein in der Gemüseabteilung geblieben, während Toni mit den anderen beiden Kindern auf die Kundentoilette geeilt war. Meine Nichte Henriette muss nämlich grundsätzlich Pipi, wenn man mit ihr unterwegs ist, und Leander ist einer von den Säuglingen mit gut funktionierendem Stuhlgang. Bei einem Baby ist die Verdauung ein ganz zentrales Thema, und ich kann mich gut an die Worte der Hebamme erinnern: »Einmal in neun Tagen oder neun mal an einem Tag – dazwischen ist alles normal.« Es ist klar, dass man mit einem Einmal-in-neun-Tagen-Baby besser bedient ist als mit einem Neun-mal-an-einem-Tag-Baby, aber man kann es sich nun mal nicht aussuchen. Obwohl Henriette zu allem Überfluss ihren Schuh ins Klo warf, war Toni nur zehn Minuten weg (sagt sie), aber diese zehn Minuten genügten Finn, die Spargelstangen aus ihrer Kiste zu ziehen und in möglichst kleine Stücke zu brechen. Die kleinen Stücke warf
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