Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
er auf dem Boden, wo sie von diversen Einkaufswagen überrollt wurden. Als Toni schließlich mit Baby und der heulenden Henriette (sie trug ja nun einen nassen Schuh) zurückkam, hatte sich bereits ein großer Ring aus Schaulustigen um Finn und den Edelgemüsehaufen gebildet. Alle schimpften wie die Rohrspatzen, aber keiner hatte einen Versuch gemacht, den guten Spargel zu retten. Der Filialleiter, der gleichzeitig mit Toni an der Unglücksstelle eintraf, wurde vor Empörung giftig rot (sagt meine Schwester), und erkannte zu allem Unglück in Finn auch den kleinen Jungen wieder, der vor einem Monat die Riesen-Nutellaglas-Pyramide zum Einsturz gebracht hatte. Das ist unser Familienfluch: Wegen der roten Haare werden wir immer und überall wieder erkannt. Der Filialleiter war ungewöhnlich kinderfeindlich (sagt meine Schwester) und fragte nicht mal nach dem tieferen Sinn des Spargelschlachtens. Es war nämlich nicht so, dass Finn rein aus bösartiger Zerstörungswut gehandelt hatte, sondern aus ganz normaler Zerstörungswut, derselben ganz normalen Zerstörungswut, die ihn gestern dazu bewogen hatte, mit einem Hammer ein Muster in den Kühlschrank und die Fronten der Einbauküche zu schlagen. Dem Filialleiter genügte es nicht, dass Toni ihre Haftpflichtversicherung in den wärmsten Tönen anpries, nein, er drohte mit einer Klage wegen mutwilliger Verletzung der Aufsichtspflicht und Vandalismus und verhängte zusätzlich ein Ladenverbot über Finn. Und über Toni gleich mit, denn er empfand ihren Einwand, man könne doch noch Suppe aus dem Spargel kochen, als blanken Hohn.
Das alles (sagt meine Schwester) sei nur meine Schuld, denn ich konnte sie nicht wie sonst zum Einkaufen begleiten.
Dass ich nicht mitgehen konnte, ist mein Chefredakteur Schuld, aber wie gesagt, Männer kennen ja keine Schuldgefühle.
Ich wollte heute Nachmittag vier meiner ungefähr dreihundertfünfzig angesammelten Überstunden abfeiern, um mich mit meinem Exfreund zum Mittagessen zu treffen und anschließend Toni beim Einkauf zu helfen. Aber gerade als ich gehen wollte, kam Birnbaum (der Chefredakteur) aus seinem Büro gestürzt und verlangte, dass ich den Termin einer Kollegin übernahm. Besagte Kollegin hatte sich ein paar Minuten vor mir aus dem Staub gemacht, und zwar mit der, wie ich finde, schlechten Ausrede, im vierten Monat schwanger zu sein. Nicht nur, dass ich ihren Termin übernehmen und den Nachmittag mit einer Vermögens- und Rentenberaterin verbringen musste, nein, anschließend durfte ich auch noch den Artikel dazu schreiben: Mit zwanzig schon an die Rente denken? Ja! ☹
Ich bin gerade eben damit fertig geworden. Wenn du etwas über fondsgebundene Renditen wissen möchtest, dann frag ruhig.
Der Termin und der Artikel waren die reinste Strafarbeit für mich (ähnlich wie der, den ich letzte Woche völlig frei erfunden habe, über ein Pärchen, das sich in einem Testchat kennen gelernt hat), aber glaub bitte nicht, dass irgendjemand Mitleid mit mir hatte, im Gegenteil: Nicht nur meine Schwester, auch alle anderen sind sauer auf mich.
Mein Exfreund ist sauer auf mich, weil statt meiner meine Freundin Carla ins Restaurant gekommen war. Dabei hatte ich das aus purer Rücksichtnahme so eingefädelt, damit er nicht alleine essen musste. Obendrein kann es nicht schaden, die beiden miteinander bekannt zu machen: Er sucht eine Frau und sie einen Mann.
Aber Carla ist auch sauer auf mich, weil Alex (der Exfreund) nämlich angeblich so ein schrecklicher Langweiler ist und das Essen mit ihm eine Tortur war. Schade, ich hatte auf Liebe auf den ersten Blick gehofft. Die beiden passen nämlich hervorragend zueinander, aber offenbar benötigen sie noch etwas Zeit.
Alle, alle, versuchen, mir Schuldgefühle einzutrichtern.
Toni, weil ich nicht da war, um das Spargelmassaker zu verhindern.
Henriette und Finn, weil ihr Hamster in dem Eimer mit Putzwasser ertrunken ist, den ich letzte Woche angerührt hatte. (Wie ist der da überhaupt reingekommen? Zudem ist der Hamster erst vorgestern ertrunken, was bedeutet, dass das Putzwasser fünf Tage lang unbehelligt im Flur herumgestanden hat.)
Meine Freundin Vivi, weil sie meinetwegen letzte Woche ein Vorstellungsgespräch bei einer Werbeagentur verschlafen hat. Sie hat zwar einen neuen Job in Aussicht, aber der ist bei einer Firma für Heizungs- und Sanitärbedarf, und da gibt es weder gut aussehende noch gut verdienende Männer, sagt Vivi. Sie ist letzte Woche dreißig geworden, und dass sie jetzt keinen
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