Lügen haben rote Haare
Zeigefinger kreuzen sich, während ich versuche, mich von den schmerzenden Füßen abzulenken.
Paul drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich glaube, er ist stolz auf mich. Wir plaudern beschwingt weiter; ich beiße die Zähne zusammen, obwohl ich liebend gerne laut jammern würde. Zusätzlich schmerzt jetzt mein Rücken, die Gurte des Rucksacks scheuern wie Reibeisen auf meinen Schultern.
Als wir nach gefühlten weiteren zehn Stunden die Baumgrenze erreichen, möchte ich Reißaus nehmen. Der Weg wird immer schmaler, die Tiefe immer tiefer, mein Schwindel immer schwindeliger. Paul entdeckt irgendwo in der Ferne Gämsen, er freut sich wie Bolle. Ich spiele Begeisterung, obwohl es mir mehr als egal ist, welche Viecher hier ›droben‹ die Wiesen vollkacken. Es fällt mir immer schwerer, ein freundliches Gesicht zu machen.
Der Gipfel liegt vor uns; das letzte Stück bis dorthin sieht so schwierig aus, dass ich wie angewurzelt stehen bleibe. Panik macht sich in meinem Körper breit, ich zittere wie Espenlaub, meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Schweiß läuft in Sturzbächen meinen Rücken herunter.
Paul zieht die Augenbrauen hoch. »Wir können umkehren, Karo. Du musst dich nicht zwingen.«
»Ich will aber nicht umkehren … Ich ziehe das durch, notfalls auf allen vieren.« Meine Stimme ist mir fremd.
»Warte mal …« Paul kramt in seinem Rucksack nach dem kleinen Pillendöschen und hält es mir hin.
»Schluck zwei auf einmal, innerhalb von zehn Minuten wird es dir besser gehen.«
Dankbar fische ich zwei grüne Tabletten aus der kleinen Dose und spüle sie mit viel Mineralwasser herunter. Abwartend setzen wir uns auf einen Felsvorsprung, und tatsächlich, schon nach wenigen Minuten fühle ich mich besser. Das letzte Stück der Bergtour ist eine Gratwanderung; die Tiefe empfinde ich zwar nicht als angenehm, aber auch nicht als so bedrohlich, dass mein Körper streikt. Auf dem Gipfel umarmen und küssen wir uns; Paul schickt einen Jodler auf die Reise und versichert mir, wie stolz er auf mich sei, dass ich nicht aufgegeben habe. Einige Minuten verharren wir schweigend vor dem Gipfelkreuz. Die Vorstellung, wie Vroni und Nikolaus hier einst knieten und beteten, treibt mir Tränen in die Augen. Danach schaffe ich es, die atemberaubende Aussicht wahrhaftig zu genießen. Noch gestern Nachmittag hätte ich niemals gedacht, dass ich eine solche Tortur auf mich nehmen würde. Gegenseitig fotografieren wir uns am Gipfelkreuz; heute Abend werde ich MMS mit den herrlichen Fotos an meine Freunde senden, die werden Augen machen! Nicht nur wegen der Bergtour, nein, auch wegen der anderen Neuigkeiten. Während einer Stärkung mit Speck, Schüttelbrot und Bergkäse berichtet Paul von seiner Zeit in London. Von Immobiliengeschäften, Investitionen und falschen Geschäftspartnern. Die Rückkehr nach Hamburg war sinnvoller, als weitere finanzielle Verluste hinzunehmen.
Danach machen wir uns auf den Heimweg. Das erste Stück bergab ist nervenzehrend, es ist so als wenn man einen Baum hinauf klettert. Nach oben klettern ist stets leichter als hinab.
Eine halbe Stunde bevor wir den Parkplatz wieder erreichen, ruft Paul Toni an. Er will sofort losfahren, um uns abzuholen.
Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass wir mit Gottes Segen sieben Stunden gelaufen und gekraxelt sind. Ich bin hundemüde. Da, wo heute früh meine Füße waren, spüre ich nur noch Schmerzen. Die Blasen an Zeh und Ferse brennen so, als würde jemand einen Bunsenbrenner davor halten. Meine Schultern sind wundgescheuert; ich verfluche die ungepolsterten Riemen meines Rucksacks. Ich bin erleichtert, als ich den alten VW-Bus samt Kamikaze-Toni entdecke. Ich freue mich auf eine kühle Dusche, auf frische Klamotten, auf ein Glas Wein und darauf, dass ich heute nicht mehr einen einzigen unnötigen Schritt laufen werde.
Ich genieße die Rallyefahrt bis zur Almhütte. Toni … du bist mein Held!
Obwohl ich strahlend aus der alten Karre steige, sieht meine Mutter sofort, wie ich mich fühle.
»Oh Gott, Karo, du bist ja vollkommen fertig. Hermann, schau doch mal, das Kind ist vollkommen hinüber!«
Mein Vater nimmt das Fernglas nicht von den Augen.
»Ja, ich sehe es, ruh dich aus, Kind.«
Paul blickt schuldbewusst drein, Vroni klopft ihm beruhigend auf die Schulter. »Jetzt schau nicht so, Paul. Mütter haben einen anderen Blickwinkel, das hast du doch selber schon erlebt. Ich erkenne auch mit verbundenen Augen, wenn du dich nicht gut fühlst. Da
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