Lügen haben rote Haare
bestimmend. »Du trinkst nur Rotwein .«
Ich ärgere mich ebenfalls über Simone-Doof. Wir hatten doch beschlossen, keinen Alkohol zu uns zu nehmen, weil wir einen klaren Kopf behalten müssen. Stattdessen wollten wir nur den roten Traubensaft, den wir in sechs leere Flaschen Rotwein gefüllt hatten, in uns hineinschütten.
»Ach«, Gundula überlegt kurz. »Dann nehme ich zur Einstimmung ein Gläschen Grappa und ein Gläschen Cognac.«
Willi fummelt diverse Verschlüsse auf und reicht der Piefke die Pinnecken, welche sie kurz hochhält und ohne mit der Wimper zu zucken nacheinander auf ex trinkt. Willi füllt die Gläser erneut. Ich stelle kalte Platten mit Minifrikadellen, kleinen Schnitzelchen, Käse, in Kochschinken gewickelten Spargel sowie Baguettebrot mit Kräuterbutter auf die leeren Blumenkästen der Balkonbrüstung, weil auf dem Tisch zu wenig Platz ist.
Gundula greift beherzt zu und spült jedes Häppchen mit einem Schlückchen, mal Grappa, mal Cognac, nach. Wir prosten ihr jedes Mal mit unserem ›Rotwein‹ zu.
Gundula ist in Plapperlaune, so gelöst haben Bruni und ich sie noch nie erlebt. Sie lamentiert über ihre alte Heimat Russland. Sie sei russischer Abstammung, ihre Eltern haben sich, nachdem sie nach Deutschland gekommen sind, einer Namensänderung unterzogen. Eigentlich heiße sie Gundula Nowakovaschenko. Aber ihre Eltern wollten nicht, dass sie in der Schule gehänselt wurde, darum die Namensänderung auf Piefke.
Jedoch, das hätten ihre Eltern sich sparen können, denn als Gundula Piefke war sie auch Hänseleien ausgesetzt. Seit Jahren sei sie nun vollkommen allein, alle ihre Verwandten tot. Und einen Mann habe sie ja auch nicht. Sie habe immer nur für ihren Beruf gelebt, darin Erfüllung gefunden.
Während sie weiter und weiter redet, schaue ich bei Vortäuschung eines Toilettenganges in ihre Handtasche und finde nur einen Schlüsselbund mit sechs Schlüsseln nebst einem Autoschlüssel. Ich rechne kurz durch. Haustür unten, Haustür oben, Kellerschlüssel, Garagenschlüssel, Briefkastenschlüssel, nein, sie kann Geigers Villenschlüssel nicht dabei haben. So ein Elend.
Als ich zurück auf den Balkon komme, erzählt sie in schillerndsten Farben von der herrlichen Datsche, die ihre Eltern seinerzeit in Russland besaßen.
»Was da alles an Gemüse angebaut wurde.«
Bruni und Willi hören höflich zu und geben den einen oder anderen Kommentar ab, Simone gähnt gelangweilt. Ich unterbreche kurz Gundulas Redeschwall.
»Hört mal kurz zu, ich habe den Briefkasten durchwühlt, die Post, die ich heute erwartet habe, ist leider nicht dabei gewesen.«
Alle machen lange Gesichter, nur die Piefke lacht.
»Na, darauf trinken wir noch einen, was? Ich krieg ja auch nie Post. Nastrovje!«, ruft sie laut und gießt sich selber einen Grappa nach, der sogleich mit einem Schwung hinuntergespült wird.
Sie zeigt sich sehr interessiert, als Simone von ihrer Tätigkeit im Pflegeheim berichtet, und fragt nach allen Einzelheiten. Nach einer weiteren Stunde fällt ihr ein, dass wir doch auf Esther und Brigitte anstoßen wollten. Mir ist schon ganz übel, von dem süßen Saft.
Danach wird Willi abgeklopft, der ebenfalls Rede und Antwort steht.
Nach zwei weiteren, diesmal Likörchen, erzählt uns Gundula wehmütig von ihrer Mietwohnung in Petersburg, die sie mit ihren Eltern bewohnte. Schwärmt von dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Russen, die in kleinen Räumen auf langen Fluren in viel zu engen Mietbehausungen lebten, mit nur einer Gemeinschaftsküche und einem Badezimmer, welches sich alle teilten. Noch heute trauere sie dem Geborgenheitsgefühl nach, das sie damals in Russland erfahren durfte. Hier in Deutschland sei doch jeder irgendwie alleine. In ihrer alten Heimat wurde am Abend gemeinsam gekocht und gesungen. Leise, völlig in Gedanken versunken fragt sie, ob wir das russische Volkslied Abendglocken von Iwan Iwanowitsch Koslow kennen . Wir verneinen gleichzeitig. Dann fängt sie an zu singen.
Vetsh e rni zvon,
Vetsh e rni zvon,
Kak mn o ga dum
nav o dit on.
Der Klang der Abendglocken,
der Klang der Abendglocken,
wie viele Gedanken
ruft er hervor.
Die Melodie ist dermaßen wehmütig, dass mir ein kalter Schauer den Rücken herunterläuft.
Ganz plötzlich springt sie auf und bittet, dass sie jemand nach Hause fährt. Simone und Willi bieten sich sofort an, sie zu fahren. Gundula hält sich nicht lange mit Abschiedsbekundungen auf. Sie nimmt ihre Jacke und Handtasche und geht einfach.
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