Lügen haben rote Haare
Im Hausflur singt sie leise weiter.
Und wie viele
schon nicht mehr am Leben sind,
die damals fröhlich
und jung waren.
Fest ist
ihr Schlaf im Grabe,
sie hören nicht mehr
den Klang der Abendglocken.
Bruni und ich stehen am Treppengeländer, nach den letzten Tönen des wehmütigen Liedes fallen wir uns heulend in die Arme. Die arme Piefke! Wir sollten uns mehr um die einsame Frau kümmern.
Wieder auf dem Balkon herrscht eine bedrückende Stille, wir schnäuzen kräftig in die rot gepunkteten Servietten und winken Gundula, Simone und Willi noch einmal zu. Während Frau Piefke ins Auto steigt, ruft sie uns noch etwas zu.
»Spokojnaj notsch!« verstehen Bruni und ich. Und: »So einen schönen Abend hatte ich lange nicht mehr!«
Bruni benötigt noch eine Serviette. »Die Geiger-Sache ist mir jetzt vollkommen schnuppe. Morgen nehme ich meinen Einsatz aus der Mütze!«, sinniert sie laut.
»Ja, ich hole mir meine zwanzig Euro auch wieder. Schämen sollten wir uns, wir wären fast vom rechten Weg abgekommen.«
Gemeinsam räumen wir auf, dann macht sich meine Freundin in getrübter Stimmung auf den Weg nach Hause, ich auf den kurzen Weg in mein Bett.
Was bin ich glücklich, eine Familie zu haben! Die Vorstellung, ganz alleine auf dieser Welt zu sein, treibt mir die Tränen in die Augen. Ich krabbele noch einmal aus den Federn und hole mir Paul Geigers Taschentuch, lege es auf mein Kopfkissen und atme tief den maskulinen Duft ein. Irgendwie ist der Geigenpaul ja nun auch alleine. Fast alleine!
14. Nur für den Notfall
In der Nacht werde ich durch einen nervigen Klingelton aus dem Tiefschlaf gerissen. Benommen taste ich nach meinem Mobiltelefon und erfasse die Uhrzeit auf dem digitalen Wecker. 01:02 Uhr. Ein Anruf nach der Geisterstunde kann nichts Gutes bedeuten, ich denke spontan an Opa Heini, er ist nicht mehr der Jüngste. Es meldet sich die Notaufnahme der Santorin-Klinik, die Verbindung ist miserabel. In meiner Wohnung habe ich stets einen schlechten Empfang. Eine Stimme erklärt mir abgehackt, dass »Piefke … gebrochen … hat«. Ich fluche innerlich auf den schlafenden Sendemast und rufe ein lautes »Augenblick bitte« in das Gerät. Kein Wunder, dass sie sich vollgekotzt hat. Nach der Menge Alkohol hätte ich mich auch vollgereihert. Aber was macht Gundula im Krankenhaus? Sie hätte doch auch zu Hause in einen Eimer kotzen können. Ich laufe auf den Balkon, um einen besseren Empfang zu haben. Noch einmal erklärt die hellwache forsche Stimme, die sich als Oberschwester Edelgard entpuppt, die Geschehnisse.
»Eine Frau Gundula Piefke ist vor einer Stunde eingeliefert worden. Sie hatte im Treppenhaus einen Unfall. So wie es aussieht, hat sie einen Oberschenkelhalsbruch, Rippenprellungen, mehr kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen. Sie verlangt nach Ihnen, bittet Sie morgen früh sehr zeitig zu kommen, sie bräuchte aus ihrer Wohnung einige Sachen. Machen Sie sich aber keine Sorgen, Ihrer Freundin geht es so weit gut, die kriegen wir wieder hin.«
Ich bedanke mich für den Anruf und drücke die Beenden-Taste. Geschockt laufe ich im Wohnzimmer einige Runden im Kreis, diese Nachricht muss ich erst einmal verdauen. Ich fühle mich mitschuldig an diesem Unfall, wie auch immer er passiert sein mag, und fasse den Entschluss, sofort ins Krankenhaus zu fahren. Mir ist leicht übel, die schlechte Nachricht ist mir auf den Magen geschlagen.
Ich werde von Schwester Edelgard, die ihre Nasenflügel unentwegt wie ein kleiner Drache bläht, angewiesen, vor der Notaufnahme Platz zu nehmen, denn Frau Piefke werde gerade von Dr. Magnussen und Dr. Holland untersucht. Jetzt wird mir richtig übel. Roger und Ricarda. Der zweite Tag, der so elendig anfängt, dass er den gestrigen noch toppen wird. Das ›Mannsweib‹ steckt den Kopf kurz aus der Tür, sie trägt ein riesiges weißes Brillengestell auf der Nase und nickt etwas angespannt in meine Richtung.
»Wir sind gleich bei Ihnen.«
Ich spiele nervös mit den Riemen meines Rucksacks und zähle die kleinen, gelbbraunen Karos auf meiner Hose. Ha, ha … die Karo trägt ne Karohose und Dr. Holland hat ein Hollandrad auf der Nase . Dann denke ich, dass die Welt so verdammt klein sein kann.
Zehn Minuten später wird die Tür mit einem Zischen aufgeschoben. Ricarda kommt müde, gefolgt von einem verlegenen Roger auf mich zu. Na, da haben ja die beiden richtigen Nachtdienst und ich freue mich ohne schlechtes Gewissen, dass sie keinen ruhigen Dienst haben. Von wegen
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