Luegenbeichte
stehen. Herr Werner deutete auf die Strickleiter, die von der Linde baumelte. »Ach, guck an, ein Baumhaus! So was hätte ich als Kind ja auch gern gehabt.«
»Und warum hatten Sie keins?«, fragte Josi.
»Nicht jeder ist so glücklich und hat einen Garten in Berlin, junge Dame. Ich bin in Marzahn aufgewachsen. – Platte. Sagt dir das was?«
Daher wehte also der Wind, dachte Josi. Der Herr Hauptkommissar war tatsächlich neidisch.
»Kann ich da mal rauf?« Herr Werner fasste an die Strickleiter.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Thomas und trat die Zigarette im Rasen aus. Herr Werner guckte, als hätte Thomas die Kippe auf seinem Arm ausgedrückt. Josi hatte so was von ihrem Vater auch noch nicht gesehen.
Herr Werner packte die Strickleiter und kletterte hoch. Er war jetzt auf der letzten Sprosse und griff nach dem Ast über ihm, um sich auf die Plattform zu hieven. Dabei rutschte er mit der Hand ab.
Es ging alles ganz schnell: Er versuchte sich noch am Strick festzuhalten, aber zu spät. Ein Fuß verklemmte sich zwischen zwei Sprossen, dann knallte Herr Werner auf den Rasen und blieb liegen.
Josi war sich nicht sicher, ob das, was sie sah, wirklich war: einen stöhnenden Hauptkommissar, vor ihr, auf dem Boden.
»Oh Gott«, sagte Thomas und fasste Herrn Werneram Arm. »Haben Sie sich verletzt?« Er versuchte, ihm aufhelfen, aber Herr Werner stöhnte nur.
Die nächste Viertelstunde brauchte Thomas, um Herrn Werner zum Haus zurückzuschleifen. Herr Werner hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und hüpfte mit schmerzverzerrtem Mund auf einem Bein zum Haus. Josi rückte einen Gartenstuhl zurecht. Herr Werner schob sein Hosenbein hoch, den Socken runter und betrachtete den angeschwollenen rotblauen Knöchel.
»Bänderriss«, sagte Josi. »Dauert vier bis sechs Wochen.« Einer Freundin vom Volleyball war das auch gerade passiert.
Herr Werner guckte sie an, als wäre sie ein Geist. Beinahe hätte sie laut gelacht, es war wirklich verrückt. Der Herr Hauptkommissar fällt vom Baumhaus!
Herr Werner rief seine Kollegen an. Ein Streifenwagen kam und holte ihn ab.
»Noch nichts Neues wegen meinem Sohn?«, fragte Thomas die Beamten. Sie schüttelten den Kopf und hievten Herrn Werner ins Auto. Dann fuhren sie ins Behring-Krankenhaus.
9:59
Auf der Straße war der Bär los. Alle möglichen Leute standen vor der Absperrung und gafften. Wie im Zoo, dachte Josi. Dabei war die Leiche längst abtransportiert worden. Sie stand auf ihrem kleinen französischenBalkon. Von Weitem sahen die Spusi-Leute wie äsende, weiße Tiere aus, wenn sie knieten oder sich bückten. Irgendwie kam ihr alles inszeniert vor. Da konnte doch keine echte Leiche gelegen haben, gleich neben ihrem Garten! Und was, verdammt noch mal, war mit Lou? Papa hatte es schon angesprochen: Hier lief irgendwo ein Mörder herum und ihr Bruder war immer noch verschwunden. So ein kleiner Junge war doch ein gefundenes Fressen für Gewalttäter. Josi zwang sich, nicht weiter in diese Richtung zu denken. Ihr Herz schlug wie nach einem 400-Meter-Lauf. Sie musste sich ablenken, irgendwas tun!
Sie ging in ihr Zimmer und holte den Detektivkoffer unter dem Bett hervor, stellte ihn aufs Bett und öffnete ihn. Alles war sorgfältig in Schächtelchen oder Tüten verpackt, aneinandergeklammert und sortiert. Sie nahm einen aufgerollten Bindfaden heraus, eine Taschenlampe, die aussah wie ein Kugelschreiber, eine Streichholzschachtel mit Reißzwecken – wahrscheinlich, um fliehende Verbrecher zu stoppen –, eine Lupe, ein Fernrohr, Thomas' altes Handy, ein Döschen mit Pulver und Pinsel, um Fingerabdrücke zu nehmen, mehrere Stöckchen, an denen noch getrocknete Erde klebte, und Visitenkarten, die sie mit Lou am Computer entworfen hatte. Sie bröckelte die Erde von den Stöckchen. Einige waren beige, andere schwarz oder braun und alle waren sehr glatt. – Moment mal, es waren gar keine Zweige, es waren … Josi betrachtete sie näher. Sie sahen eher aus wie Absätze von High Heels. Tatsächlich, es waren abgetrennte Absätze, manche bestimmt zehn Zentimeter lang und dünn wie ein Bleistift.
Ihr Handy klingelte. Sie sah Max' Foto auf dem Display. Sein strahlendes Lächeln tat ihr weh.
»Ist Lou …?«
»Nein.«
»Wie geht es dir?«
Sie musste weinen, kriegte keinen Ton raus.
»Soll ich nicht doch vorbeikommen?«
Sie wischte sich die Tränen ab. »Max, ich kann jetzt nicht. Bitte! Ich ruf dich an, wenn Lou wieder da ist.«
»Meinst du nicht, es täte dir gut,
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