Luegenbeichte
aus dem Haus zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen? Das ist doch alles zu viel auf einmal – und jetzt noch mit der Toten …«
»Max, ich kann nicht weg. Bitte, lass mich.«
»Ich möchte bei dir sein, dich trösten.«
Sie spürte, wie sich ihr Körper nach einer warmen Umarmung mit Max sehnte. Das wollte sie auf keinen Fall! Nicht, dass ihr noch mal so was passierte wie gestern.
»Gibt es denn irgendeine Spur?«, fragte Max nach einer Weile.
»Ich weiß nicht. Der Kommissar will noch mal mit dir sprechen, wegen …«
»Ja«, sagte er sofort. »Das hat mir die Polizei schon gesagt.«
»Wieso hast du mir eigentlich gesagt, dass mit Lou alles okay wäre, obwohl du ihn gar nicht gesehen hast?«
»Josi, deswegen habe ich mir schon die größten Vorwürfe gemacht, aber glaub mir, ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Man denkt doch nicht gleich an so was. Und ich wollte zu dir. Es war so schön!«
Ja, es war schön, aber auch unwichtig. Es gab Wichtigeres im Leben. Verantwortung, zum Beispiel. Sie hatte die Verantwortung für ihren kleinen Bruder missbraucht.
»Max, als wir eingeschlafen sind, nachdem wir …«
»Ja?«
»Wir haben bestimmt eine Stunde geschlafen …«
»Du warst so schön«, flüsterte er.
Sie konnte nicht weiterreden. Max' Stimme klang, als würde er sie mit den Fingerspitzen im Nacken berühren. Und es war sowieso Blödsinn, dass Herr Werner ihn verdächtigte, und außerdem war es eben nicht nur Sex – etwas, was man »hat«. Es war viel mehr, es war …
»Josi, was ist?«
Irgendwas war da, aber sie kam nicht drauf. »Ach, ist schon gut.«
»Wirklich?«
»Hm.«
»Ich würde dich so gern in die Arme nehmen. Jetzt.«
Sie schloss die Augen, sehnte sich nach seinem Körper, aber schüttelte das Verlangen ab wie Wassertropfen. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf behalten.
»Der Kommissar … Stell dir vor, er ist vorhin vom Baum gefallen. Er ist im Krankenhaus.«
»Was macht denn der Kommissar auf einem Baum?«
»Er wollte sich Lous Baumhaus ansehen.« Sie erzählte ihm, was passiert war.
»So was Blödes gibt es auch nur bei der Polizei«, sagte Max.
Sie versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten.
»Josi, ich liebe dich. Und es tut mir so leid!«
Seine Worte gingen ihr unter die Haut, ins Blut und in die Knochen, ins Herz. Aber sie kriegte keinen Ton raus. Hatte er nicht eben gesagt: »Du warst so schön?« Das hörte sich so an, als hätte er sie betrachtet, während sie geschlafen hatte. Aber er hatte doch selbst geschlafen!
10:19
Josi lehnte im offenen Fenster und konnte nichts tun. Wenn sie sich setzte, wollte sie aufstehen, wenn sie stand, wollte sie sich setzen. Schatten tanzten vor ihren Augen, Blätter flirrten. Papa und sie unter einer Birke. Mama lacht, reicht ihr ein Überraschungsei. Sie sitzen zu dritt auf einer Decke. Picknick. Brötchen, Nudelsalat, Himbeersaft. Vögel zwitschern. Sie nimmt das Überraschungsei und lehnt sich an Papas Hüfte, schmiegt sich mit dem Rücken an ihn. Er legt seine Hand auf ihre Schulter, streicht über ihren Arm.
»Willst du das Ei nicht aufmachen?«, fragt Mama.
»Mama?« Ihr Handy rauschte. Es war, als würde ihre Mutter irgendwo im Sturm stehen. Barbara fragte, ob sie sie abholen sollte oder mit ihr spazieren gehen wolle. Barbara sagte noch was durch die rauschende Leitung, aber Josi hörte nicht mehr zu. Spazieren gehen – so ein Schwachsinn! Sie konnte doch jetzt nicht spazieren gehen!
Sie legte sich ins Bett. Es war noch zerwühlt, aber nicht mehr warm. Sie zog die Decke bis ans Gesichtund steckte ihre Nase ins Kissen. Es roch nicht mehr nach Max. Es roch nach gar nichts. Sie versuchte sich zu erinnern, was damals, beim Picknick, in dem Überraschungsei gewesen war. Es fiel ihr nicht ein, weil sie noch nie etwas Gescheites darin gefunden hatte. Nicht wie Lou, mit seinem kleinen Herrn Rufus.
Hör auf, geh nicht so! Das ist so laut! Das tut mir weh!
11:14
Josi saß mit einem Orangensaft im Sessel, als Herr Werner mit zwei blauen Krücken und einem Verband um den linken Fuß ins Wohnzimmer humpelte. An seinem Arm hing ein zerknitterter Einkaufsbeutel und schlenkerte bei jedem Hüpfer an die Krücke. Der Umriss einer Sandale war in der Tasche zu erkennen. Josis Verdacht auf Bänderriss hatte sich bestätigt, allerdings noch mit einer Verstauchung. »Außenbandruptur und Distorsion«, teilte ihr Herr Werner die Diagnose mit, als wäre er stolz darauf. »Du hast recht gehabt. Vier bis sechs Wochen dauert das.«
Weitere Kostenlose Bücher