Luegenherz
stellen, dann wird das gewaltigen Wirbel machen, und das macht mir genauso viel Angst wie der Gedanke, in eine Höhle zu steigen oder mich mit Schweinegrippe zu infizieren.
Mein Blick gleitet über Milas vernarbten Arm, der jetzt frei daliegt, weil sie sich umgedreht hat. Wie sich das wohl anfühlt? Wie unglücklich muss man sein, um sich so zu verletzen? Ich würde gern über jede einzelne Narbe streicheln und ihr zuflüstern, dass jetzt alles gut werden wird, auch um mir selbst Mut zu machen. Aber ich traue mich nicht.
Leise seufzend schlüpfe ich behutsam aus dem Bett, um Mila nicht zu wecken, und mache uns so geräuschlos wie möglich einen Kaffee. Ich schütte jede Menge Zucker in ihren Becher, halte ihn ihr dann unter die Nase und schaue zu, wie sie langsam von dem Duft des Kaffees aufwacht.
»Hey«, sagt sie als Erstes und reibt sich die Augen. Dann kreist sie mit ihren schmalen knochigen Schultern hin und her und streckt schließlich ihre Hand nach dem Becher aus. »Danke. Wie spät ist es?«
»Schon halb sieben, du musst los, dein Zug geht in einer halben Stunde.«
Sie setzt sich auf und trinkt einen Riesenschluck von dem heißen Kaffee. Sie schließt ihre Augen, lässt den Kopf nach hinten sinken, sodass ich die klopfenden blaugrauen Adern an ihrem weißen Hals sehen kann, murmelt dann genießerisch »hmmmm«, hebt den Kopf, streicht sich mit der freien Hand durch ihre strubbeligen Haare, öffnet ihre Augen wieder und lächelt mich an, als hätte ich ihr Leben gerettet.
Mein Herz gerät etwas aus dem Takt und ich muss schnell wegschauen, weil mir so merkwürdig wird unter ihrem Blick. Und noch merkwürdiger finde ich, dass ich nicht mal Angst habe, sie könnte Kaffee auf meinem Bett verschütten.
»Ally«, beginnt sie, »Ally, vielleicht sollten wir das alles vergessen.« Sie streckt sich und dabei werden die roten, schlecht verheilten Narben an ihrem Arm plötzlich ganz weiß, als würde man alles Blut herausziehen. Dieser Anblick löst ein ganz wehes Gefühl in meinem Bauch aus, als ob er innen wund wäre.
Ich strecke unwillkürlich die Hand aus, würde ihren Arm gern berühren, sie trösten, es ungeschehen machen, aber natürlich tue ich das nicht. Stattdessen tue ich so, als wollte ich das Laken straff ziehen und räuspere mich. »Kannst du es denn vergessen?«, frage ich und meine Stimme klingt ziemlich rau.
Mila springt aus dem Bett und schlüpft in ihre weißen Jeansshorts. Dann geht sie zum Waschbecken, klatscht sich Wasser ins Gesicht und putzt sich die Zähne, indem sie Zahnpasta auf ihrem Zeigefinger verteilt und damit ihre Zahnreihen entlangrubbelt. Sie dreht den Wasserhahn auf, gurgelt und spült dann ihren Mund aus. Ich kann gar nicht so schnell gucken, da ist sie schon fertig.
»Das muss reichen.« Sie lächelt mir im Spiegel zu. »Vergessen kann ich es sicher nicht.« Sie seufzt und hält einen Moment inne, bevor sie weiterspricht. »Ally, ich muss dir was sagen. Du kennst noch nicht die ganze Wahrheit.«
Oh Gott, was kommt denn jetzt noch? Mir ist sowieso schon so komisch.
»Weißt du, ich habe wirklich gedacht, der Landgraf will mir helfen, weil er an mich als Mensch glaubt, daran, dass ich es schaffen kann, mit dem Ritzen aufzuhören. Ich hatte definitiv den Eindruck, ich würde ihm etwas bedeuten.« Sie zuckt mit den Achseln, bleibt aber vor dem Spiegel stehen. »Aber das war total naiv. Ich bedeute niemandem etwas. Das weiß ich jetzt.«
»Nein!« Ich stehe auf, gehe zu ihr und lege meine Arme von hinten um ihre schmalen Schultern herum, sodass wir uns im Spiegel anschauen können. »Mir bedeutest du viel mehr als nur etwas, du bedeutest mir unheimlich viel.«
Unsere Augen begegnen sich im Spiegel, dunkel und intensiv, irgendwie drängend und meine Knie werden so weich, als würde Ferdi mich anschauen.
Aber Mila ist ein Mädchen!
Meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus dicken Marshmallows und würden gleich wegsacken, so weich und schwammig sind sie, und gleichzeitig hämmert mein Herz schnell und hart und in meinen Ohren rauscht es. Wenn ich nur wüsste, was hier mit mir passiert, mit uns passiert.
Mila zuckt urplötzlich zusammen, entzieht sich mir mit einer abrupten Bewegung, sodass meine Arme an mir herunterfallen, als würden sie nicht zu mir gehören, und ich stehe allein vorm Spiegel mit diesen merkwürdigen Gummischaumbeinen. Was ist bloß los mit mir?
»Es klingelt«, behauptet sie.
Ich versuche, etwas anderes zu hören als Rauschen und Herzklopfen,
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