Luegenherz
aber da ist nichts. »Jetzt? Um diese Zeit? Du musst dich irren.«
Mila schüttelt den Kopf und in der Sekunde klingelt es wieder. So ungeduldig, dass es nur Jury sein kann. Als ob er eine Antenne dafür hätte, wann er besonders stört! Was will der denn schon wieder hier?
Ich mache ihm auf, und als seine gelbe Vespa sichtbar wird, stöhnt Mila. Auch ihr scheint Jury tierisch auf die Nerven zu gehen.
»Ich muss jetzt los, wir telefonieren.« Sie schnappt sich ihre Tasche, winkt mir noch einmal zu und rennt geradezu an Jury vorbei, der ihr demonstrativ hinterherpfeift.
»Scarface, irgendwas stimmt mit dir nicht – du hattest Übernachtungsbesuch von einer Freundin?! Musste sie durch eine Desinfektionsschleuse oder wie hat sie das geschafft?«
»Du mich auch, Jury. Wieso bist du nicht auf dem Weg zur Uni?«
»Weil ich dich warnen muss.« Sein eben noch Mia geltendes Grinsen weicht einem ernsten Gesichtsausdruck.
»Mir ist nämlich wieder eingefallen, wo ich den Namen Tobias Landgraf noch gelesen habe. Das hat mir bis gestern keine Ruhe gelassen.«
Was ich ihm sofort glaube, denn mein Überflieger-Superbruder muss immer alles im Griff haben und beweisen, wie toll sein Gehirn ist – besonders im Gegensatz zu meinem. Ich lese irgendwas und weiß drei Minuten später schon nicht mehr, um was es ging. Fakten sind für mein Hirn so spannend und erstrebenswert wie Fußpilz.
»Also machst du mir heute einen Kaffee?«
»Wenn es sein muss. Aber ich wollte auch gleich los, also komm zur Sache.«
Ich gieße den Rest Kaffee, der noch in der Espressokanne ist, in einen Becher und schütte lieblos kalte Milch drüber.
Er trinkt einen Schluck und verzieht angewidert sein Gesicht. »Ich werde Mams überreden, dass sie dir auch eine Barresta-Maschine kauft, da musst du nur einen Knopf drücken und alles andere passiert vollautomatisch.«
»Das wirst du nicht tun. So ’nen Bonzenscheiß brauche ich nicht. Also, was willst du hier?«
»Bevor ich’s vergesse, ist der Spanner wieder aufgetaucht?«, fragt er, statt mir zu antworten.
»Nein und ich glaube auch nicht, dass es ein Spanner war. Das hast du dir bestimmt nur eingebildet!«
Er zuckt mit den Schultern, stellt den Becher in die Spüle, schaut sich in meiner Garage um und fragt mich mit Blick auf mein zerwühltes Bett mit hochgezogenen Augenbrauen, wie gut ich Mila eigentlich kenne.
»Bist du deshalb hergekommen, so früh am Morgen? Ich dachte es geht um Landgraf?«
»Ja.« Er setzt sich an meine Werkbank. »Es fällt mir schwer, dich darum zu bitten, aber ich will nicht, dass du mit diesem Typen am Samstag zum Höhlenklettern gehst. Höhle okay, aber auf gar keinen Fall mit diesem Landgraf.«
Entgeistert werfe ich meine Hände in die Luft. »Was soll das denn jetzt? Ich dachte, du fändest es toll, wenn ich so todesmutig bin. Du hast mir doch noch gut zugeredet!«
»Prinzipiell finde ich das immer großartig, wenn du an deinen Störungen arbeitest, Schwesterchen.« Er legt seine Hand auf meinen Arm und lächelt versöhnlich, trotzdem würde ich ihn am liebsten auf den Mond schießen.
»Aber ich weiß jetzt, was ich vor ein paar Monaten noch über diesen Typ gelesen habe, und das stand nicht in der Alpenvereinszeitung, sondern im Bayernteil der TZ.«
»Seit wann liest du denn die TZ?«
»Ich lese alle Münchener Tageszeitungen zum Frühstück.«
Klar und den Brockhaus zum Mittagessen, denke ich böse und bin trotzdem gespannt, worauf er hinauswill.
»Also, in dem Artikel ging es um eine sehr junge Frau, die sich umgebracht hat. Das ist äußerst ungewöhnlich, denn normalerweise ist das ein absolutes No go.«
»Wie – ein No go? Kannst du vielleicht mal normal mit mir reden?«, fahre ich ihn an, aber ich bin alarmiert. Selbstmord!
»Damit wollte ich sagen, keine Zeitung schreibt mehr über Jugendliche, die Selbstmord begehen, weil es dann immer so viele Nachahmer gibt. Du weißt schon, das Werther-Syndrom.«
Nein, ich habe keine Ahnung, aber ich werde ihn jetzt nicht mehr unterbrechen.
»Der Artikel drehte sich auch nicht um den Selbstmord, sondern es ging um die Eltern, die behauptet haben, ihre Tochter sei, erst nachdem sie beim therapeutischen Klettern war, auf die Idee gekommen, sich von einer Klippe zu stürzen. Sie war zum Klettern geschickt worden, weil sie extrem aggressiv war. Nach dem Klettern sei sie völlig verändert gewesen und hätte kaum noch gesprochen. Die Eltern wollten den Leiter der Gruppe – Tobias Landgraf – deshalb
Weitere Kostenlose Bücher