Luegenherz
es tut sich nichts.
Als ich mich nach Landgraf umschaue, kann ich ihn nirgends entdecken. Auf der Suche nach einem Netz bin ich kreuz und quer gerannt und weiß jetzt nicht mal mehr, aus welcher Richtung wir gekommen sind. Nur zwitschernde Vögel überall, so laut, als wollten sie mich warnen.
»Hallo?«, rufe ich versuchsweise.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist, ganz allein in der Pampa im Wald oder mit Landgraf zusammen zu sein. Jetzt hör aber auf, Ally, das hier ist nicht Blairwitch-Project, es ist taghell und es gibt hier weder Wölfe noch Bären. Und Geister oder Hexen schon gar nicht.
Gerade als ich zum Auto zurücklaufen will, greift eine Hand von hinten um meine Schulter. Ich zucke zusammen und fahre herum, ich habe ihn nicht kommen hören.
»Wo bleibst du denn? Wir müssen hier entlang.« Er lässt seine Hand liegen und dirigiert mich durch das Gebüsch.
»Weißt du, Ally, das hier ist meine neue Lieblingshöhle und ich habe lange überlegt, ob ich mit dir hierher gehen soll.«
»Was willst … du«, das du kommt mir kaum über die Lippen, ich will diesen Kerl nicht duzen, »also, was gab’s denn da zu überlegen?«
»Ich klettere entweder mit meinen Höhlenkumpels von den Cave-seekers oder mit Jugendlichen, die an ihre Grenzen und in Kontakt mit sich selbst gebracht werden sollen.«
Er geht langsam aber beständig bergauf, mitten durch das Gestrüpp, das mir die Beine blutig kratzt, als ob da irgendwo ein Weg wäre.
An ihre Grenzen bringen … Ich sehe Milas Narben vor mir. Rot leuchtend und wulstig. Ja, sie hat ihre Grenzen überschritten, ja, sie hat die Haut, die ihren Körper, ihr Innerstes von der Welt trennt, vor der Welt beschützt, aufgeschlitzt, um sich zu befreien, von ihm zu befreien. Ich schlucke alles hinunter, was ich sagen möchte, lasse ihn reden. Er darf nicht misstrauisch werden.
»Du gehörst ja nun in keine dieser Kategorien. Aber ich weiß, dass du Probleme hast. Und ich kann dir helfen.«
»Mir ist übel«, keuche ich, weil mir jetzt wirklich Magensäure hochsteigt.
Er bleibt stehen, schaut mir besorgt und gleichzeitig ein wenig spöttisch in die Augen. »Das ist nur die Aufregung. Es ist nur noch etwa eine Stunde zu gehen. An der Höhle machen wir halt, dann zeige ich dir, wie man den Schlaz und die Gurte anlegt. Wasserfeste Wanderstiefel und Handschuhe hast du ja dabei, oder?«
Ich nicke bloß und hoffe, dass sich dieses Hämmern in meiner Brust bald wieder beruhigt. Während ich hinter ihm herstampfe, versuche ich, mich auf das Rascheln unserer Schritte auf dem trockenen Boden zu konzentrieren, versuche, nicht daran zu denken, dass er und ich ganz allein hier sind.
Total allein.
Aber es ist wie mit dem rosa Elefanten – es ist unmöglich, nicht daran zu denken, dass wir allein hier sind. Also, Ally, dann denke nicht an die Narben von Mila, denke nicht an den Selbstmord des anderen Mädchens, denke nicht an die Höhle, denke nicht, oh Mist, was mache ich hier eigentlich?
Ich taumle mehr hinter ihm her, als dass ich gehe, und es kommt mir vor, als würden wir schon seit endlosen Stunden marschieren, immer bergauf. Ab und zu darf ich mal eine kurze Verschnaufpause machen, aber dann treibt er mich wieder unerbittlich vorwärts. Ich versuche, den Stimmenchor, der ständig ›allein, allein, allein‹ in mein Ohr raunt, abzustellen und mich auf den Weg zu konzentrieren. Alles sieht gleich aus, bis auf eine merkwürdige Pflanze, an deren Stängeln rotlilafarbene Blüten wie Turbane hängen.
Ahh! Mein Kopf!
Ich bin gegen die Leiter eines alten Hochsitzes gestoßen, die ich nicht gesehen habe, weil ich nur auf den Boden gestarrt habe. Dafür, dass das ganze Ding derart morsch aussieht, hat es übel wehgetan. Ich drücke fest gegen die Beule, die sich auf meiner Stirn zu bilden beginnt.
»Schau mal, die hast du aufgeschreckt.« Landgraf zeigt lächelnd auf zwei Eichhörnchen, die umeinanderwirbelnd einen dicken grauen Baumstamm emporhuschen.
»Hmm.« Ich reibe mir die Stirn und tappe weiter hinter ihm her, bis er endlich stehen bleibt.
Vor uns befinden sich dicke, zerklüftete Felsbrocken, der größte von ihnen sieht aus wie ein gestrandeter Wal.
»So, hier ziehen wir uns um. Das nennen wir übrigens anschlazen.«
Er wirft seinen Rucksack ins Gebüsch und macht sich daran, einen gelben Ganzkörperanzug für mich und einen roten für sich selbst herauszuholen. Die Anzüge sind aus dickem Synthetikmaterial, bei ihm sind noch zusätzlich die Ellenbogen, Schultern und
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