Luegenherz
die Augen wieder auf.
Mila, ich muss Mila anrufen. Wie gut, dass ich mein Handy geladen habe. Ich muss ihr Bescheid sagen. Die Arme wird am Ende sein, weil unser Plan erst mal gescheitert ist, denn sie wird es auf keinen Fall so schnell vom Walchensee hierher schaffen.
Jetzt verlassen wir die Autobahn und fahren Richtung Berchtesgaden. »Fahren wir bis nach Österreich?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, wir sind gleich da. Es ist ganz in der Nähe, mitten im Wald. Ich habe die Höhle letztes Jahr mit einem Freund zusammen entdeckt und wir sind gerade erst dabei, sie zu erforschen. Im Untersberg gibt es viele Höhlen. Man vermutet, dass noch weitaus mehr existieren, und jeder hofft, dass er auch so etwas wie die Riesendinghöhle entdeckt. Weißt du übrigens, wie diese Höhle zu ihrem Namen gekommen ist?«
Ich zucke mit den Schultern, ist mir gerade total egal. Ich muss nur dafür sorgen, dass Mila erfährt, wo ich bin, damit sie sich keine Sorgen macht.
»Mein Bruder wüsste das sicher, der macht alles, von Rafting über Canyoning bis Eisklettern. Ich habe ihm übrigens gesagt, wo wir heute hinfahren und er wird die Höhlenrettung alarmieren, wenn wir nicht bis siebzehn Uhr zurück sind.« Voll gelogen, ich habe ihm natürlich nichts gesagt.
»Sehr umsichtig von dir, das mache ich auch immer. Heute allerdings nicht, wir machen ja nur einen kleinen Ausflug. Gehört dein Bruder dann auch zu diesen rücksichtslosen, abenteuerlustigen Umweltzerstörern, die nur den ultimativen Kick suchen?« Er wartet keine Antwort ab und redet gleich weiter. »Dann bin ich wirklich froh, dass er nie erfahren wird, wo es uns heute hinverschlagen hat.« Er grinst sehr zufrieden. »Und war er zufrieden, dass du dich deinem Trauma stellst?«
»Ja, und am liebsten wäre er mitgekommen.«
»Es ist besser, dass wir alleine sind. So, wir sind da.«
Ja, denke ich, klar ist ihm das das Liebste – und dann wird mir noch mulmiger, weil mir wieder einfällt, dass Mila weit weg ist.
Er parkt das Auto seitlich am Straßenrand, ich sehe nichts als einen reichlich undurchdringlichen Wald. Hohe lichte Buchen, dazwischen ab und zu eine Tanne oder eine Fichte und jede Menge dichtes Unterholz. Holunderbüsche, Himbeeren, Brombeeren und Disteln. Kein Weg, keine Markierung. Nichts. Nur ein kleiner rötlicher Felsen unter einem Baum links, der aussieht wie die Kappe von Rotkäppchen.
»Hier?«
Rotkäppchen war eins meiner Lieblingsmärchen, als ich klein war. Ich hatte jedes Mal Todesangst, wenn Rotkäppchen seine Fragen gestellt hat. Aber das Gefühl später, wenn der Wolf sich dann doch als der Dumme entpuppt hat, war unglaublich befriedigend. Tod dem Bösen.
Aber jetzt ist hier alles anders. Landgraf wird nicht der Dumme sein, denn er und ich sind allein. Es wird keine Bilder geben.
Leichter Wind rauscht durch die Blätter, aber es ist trotzdem heiß.
Landgraf reicht mir einen merkwürdigen Rucksack aus dem Kofferraum. Er sieht aus wie ein breiter Schlauch aus dickem Ölzeug. »Ausrüstung. Das ist unser Schleifsack. Da ist alles drin, was wir brauchen. Seile, Haken, Gurte, Verbandszeug.«
Als ich danach greife, falle ich fast um, weil er ein unglaubliches Gewicht hat.
»Nennt man ihn Schleifsack, weil er so schwer ist, dass man ihn nur hinter sich herschleifen kann?«
»Keine schlechte Idee.« Landgraf lacht kurz auf. »Es stimmt schon, wir ziehen ihn in der Höhle hinter uns her, wenn wir zum Beispiel eine Engstelle passieren müssen – Schluf nennt man die. Aber wir lassen ihn auch am Seil ab, um zu sehen, wie tief eine Höhle ist.« Er grinst mich an. »Bist du bereit?«
Ich nicke bloß, versuche, meine wackligen Beine durchzudrücken, und behaupte, ich müsste mal aufs Klo – ich muss Mila anrufen!
Er nickt und zeigt auf den Wald. »Ich gehe schon mal ein paar Schritte vor.«
Das freut mich aber, denke ich und suche mir einen dicken Baumstamm. Landgraf ist nicht mehr zu sehen. Gut. Dann kann ich gefahrlos mit Mila reden. Ich nestle mein Handy aus der Hosentasche und tippe die Kurzwahl. Meine Finger zittern derart, dass ich kaum die zwei Tasten treffe.
Kein Empfang. Ich gehe ein paar Schritte nach rechts und beobachte die Anzeige auf dem Display.
Nichts.
Dann eben die andere Richtung.
Nada, niente, null.
Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sind wir denn schon so weit oben oder derart von Bergen umgeben, dass es hier kein Signal mehr gibt? Panisch laufe ich ein paar Schritte in die eine, dann wieder in die andere Richtung, aber
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