Luegenherz
übel.
Es blitzt jetzt mehrfach hintereinander, sodass es ganz hell im Auto wird. Zusammen mit neuem Donner kracht so viel mit Hagel durchsetztes Wasser auf die Windschutzscheibe, dass ich Angst habe, sie könnte dem Druck nicht standhalten.
Ach ja, du fürchtest, dass die Scheibe zerbirst, und was ist mit Jury und ihm? Die beiden sitzen in einer Höhle, in der das Wasser ansteigt, und zwar schnell – ohne Seile, ohne Licht.
Wie konnte ich so lange mein Gewissen ignorieren? Wie war es möglich, dass ich immer nur ich, ich, ich gedacht habe? Alles was ich getan habe, war ich, ich, ich . Sie werden sterben, Mila. Sie werden sterben, brüllt die Stimme meines Gewissens. Nicht wie Carolina, nicht weil sie das unbedingt wollten, sondern einzig und allein, weil du das wolltest.
Möchtest du am Sarg von Jury stehen und Ally beim Weinen zusehen? Und was ist mit ihm, deinem Vater? Du denkst, wenn er tot ist, wird alles besser. Aber glaubst du wirklich, du kannst mit der Schuld leben, eine Vatermörderin zu sein?
Das bist nicht du, Mila. Oder warum sonst hast du Ally diese Mail geschickt? Doch wohl in der Hoffnung, sie würde es schaffen, dich zu stoppen.
Diese Stimme wird immer lauter, übertönt sogar den prasselnden Regen. Ich ertrage das nicht länger, ich will sie nicht hören, sie soll schweigen! Ich kremple den linken Ärmel hoch und starre diese Narben an, als könnten sie mir eine Antwort auf meine Fragen geben, und gerade jetzt tut jede einzelne von ihnen so weh, als würde ich reinschneiden, sehr, sehr tief reinschneiden. Ich möchte mir den Arm abhacken, möchte raus aus diesem Körper, raus aus mir, aus diesem ich, ich, ich! Ich kriege keine Luft, reiße die Tür auf und stelle mich in den klatschenden Regen, der wie Ohrfeigen des Himmels auf mich niedergeht.
Sofort kühlt mich das Wasser ab, ich schaue in den Himmel und sehe nur einen nicht enden wollenden grauen Vorhang aus dicken Wasserperlen. Ein komisches Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Enge, dann ein Brennen und Stechen und Schnüren und ich kann nur eins tun, um das abzustellen, muss den Mund aufreißen und schreien, ich schreie in den Regen und heiße Tränen laufen mir aus den Augen, vermischen sich mit den Regentropfen, und während es mich schüttelt, kann ich nicht aufhören zu schreien, immer lauter und lauter.
»Nein!«, schreie ich, »Neiiiin!«
34. Ally
Mit jedem Meter, den ich am Seil hinunter in den Schacht gleite, wird mir schwindeliger. Auf den ersten Metern habe ich noch über Mila und Landgraf nachgedacht, aber je tiefer ich komme, desto verrückter spielt mein Körper. Ich sehe nur unscharf, aber das kann auch am herabstürzenden Regen liegen, der immer stärker wird, anstatt endlich nachzulassen.
Atmen, sage ich mir, atmen, bloß nicht anfangen, hysterisch zu werden. Denk an Jury, denk daran, dass du sie rausholen musst. Es geht nicht um dich, es geht um die beiden. Das behauptet mein Kopf, aber mein Körper sagt etwas ganz anderes. Mein Herz hämmert wie eine Maschine kurz vorm Overkill. Wie lange kann ein Körper das aushalten?
Tom brüllt irgendwas von oben, was ich aber wegen des Rauschens nicht verstehen kann. Ich bin auf mich gestellt. Als ich unten ankomme und meine Füße auf den Boden setzen will, ist da gar kein Boden, sondern Wasser, es steht mir schon bis zu den Knien. Wie gut, dass ich dieses wasserfeste Zeug anhabe.
Ich versuche, mich an das zu erinnern, was mir Tom über das Verhalten in Höhlen gesagt hat, aber mir ist so dermaßen schwindelig, alles dreht sich um mich. Der Säbelzahntiger, wie war das noch? Nein, es ging da doch um eine Schlange. Ja, die Midgardschlange, die Schwester von Hel, der Totengöttin, die hätte sich hier bestimmt wohlgefühlt.
Hand vor den Mund, in die Hand atmen. Ich wate durch das Wasser, Richtung Briefkasten. Jury, denk an Jury. Ich weiß noch, wie wir zusammen schwimmen gelernt haben, es war das Einzige in meinem Leben, was ich vor ihm konnte. Ich stehe vor dem winzigen Schlitz in der Wand und zittere so, dass ich mich an der Höhlenwand festkrallen muss. Das Wasser reicht hier nur bis zur Wade. Ich suche mir einen festen Stand und drehe den Kopf so, dass die Lampe am Helm Licht in den Schlitz wirft, atme in die Hand, atme, suche einen Sicherungshaken, auch der ist leer, kein Seil weit und breit. Ich klinke mich ein. Den Kopf zur Seite drehen, um durchzukommen, dahinter hatte Landgraf eine große Höhle versprochen. Hier ist es plötzlich still, nur ein leises Gurgeln
Weitere Kostenlose Bücher