Luegenherz
pitschnasses T-Shirt, das Wasser tropft aus meinen Haaren und ich frage mich, wie sinnvoll es ist, so nass in den Schlaz zu steigen. Aber Tom treibt mich so zur Eile an, dass nicht wirklich Zeit zum Nachdenken bleibt.
»Aber dort unten kommt dann so ein Briefkasten …«
»Scheiße, dann sollten wir uns noch mehr beeilen, die laufen besonders schnell voll.«
»Ich kann das nicht!« Meine Beine zittern im Takt mit meinem rasenden Puls.
Ein Blitz schlägt krachend irgendwo in der Nähe ein und der sofort eintretende Donner ist so gewaltig, dass wir beide einen Satz zur Seite machen. Plötzlich geht Hagel über uns nieder, unablässig und mit kleinen Eisbröckchen, stechend wie Nadeln aus Stahl.
»Und wenn ich mich da drinnen weiter abseilen muss?«
»Dann hat Landgraf dort sicher Haken angebracht und du hängst dich mit dem Gurt und der Abseilautomatik einfach dran.« Er lässt mich in den Gurt steigen und legt mir den anderen um den Hals über die Schultern.
Wieder schlägt ganz in der Nähe ein Blitz ein, als wollte das Gewitter niemals weiterziehen. Der Regen ist jetzt wieder wärmer geworden, doch dafür reißt der Wind Tannenzapfen von den Bäumen, die auf unsere Körper einschlagen wie kleine Kanonenkugeln.
»Hast du eine Uhr?«, fragt Tom, ohne ihnen Beachtung zu schenken.
Ich schüttle den Kopf, auf dem Tom gerade den Helm festzurrt.
»Dann nimm meine, du brauchst da unten eine Orientierungshilfe, sonst vergisst du die Zeit völlig.« Er legt mir die Uhr um. »Also, hör mir gut zu, ich rufe jetzt die Bergrettung, klar? Beeil dich trotzdem. Es ist so verdammt beschissen, dass ich diese Höhle nicht kenne, ich kann dir also nur raten, geh kein Risiko ein und sei vorsichtig.«
»Du machst mir wirklich Mut.« Ich versuche ein Lächeln, immerhin wäre ich ohne ihn nicht hier. Nur er kann mir helfen, Jury da rauszuholen. »Wo ich es eh kaum erwarten kann, in dieses Grab zu steigen.«
»Siehst du eine andere Möglichkeit?«
Ja, denke ich, wegrennen, so schnell ich kann, aber das ist natürlich unmöglich. Die beiden sind dort unten, während es in Strömen regnet, und wir haben keine Ahnung, was Mila mit ihrer Ausrüstung angestellt hat. Sie könnten sterben. Ich betrachte Tom, der vollkommen durchnässt vor mir steht, und mich flehend anschaut. Sein blaues T-Shirt klebt an seinem durchtrainierten Bauch und für eine Sekunde beneide ich Mila, dass Tom sich immer noch so um sie sorgt. Obwohl sie ihn fast umgebracht hätte. Er legt seinen gesunden Arm um mich und die Wärme seines Körpers geht sogar durch den Schlaz.
»Ally, wenn ich könnte, wäre ich schon unten. Wir dürfen nicht zulassen, dass Mila den Tod ihres Vaters und den deines Bruders zu verantworten hat. Beeil dich, reiß dich zusammen. Ich bin sicher, du kannst es.«
Er drückt mich fest an sich und dann gehen wir zu dem Einstieg und auf einmal bleibe ich abrupt stehen.
Landgraf ist Milas Vater?
»Wie, was hast du da gerade gesagt?«, frage ich Tom.
Aber der winkt ab. »Wir reden später, beeil dich jetzt!«
Er vergewissert sich, dass ich richtig eingehakt bin, erklärt mir noch mal, worauf ich achten muss und wie ich mich dann wieder nach oben ziehen kann, dann steige ich in die Höhle hinab.
Immer tiefer in den Abgrund. Mein Grab.
33. Mila
Verdammt, ich muss die Karre anhalten, sonst schlingert sie noch komplett in den Graben. Die Scheibenwischer kommen nicht mehr hinterher, so sehr klatscht der Regen aufs Auto. Und als ich das Auto endlich zum Stehen gebracht habe, sehe ich immer noch nichts. Wahnsinn, was da runterkommt.
Bei Carolinas Beerdigung hat die Sonne geschienen und es war eiskalt. Ihre Eltern waren verzweifelt, völlig am Boden zerstört und er ist nicht mal bei der Beerdigung aufgekreuzt. Sie und ich waren Teamführer in seinen Klettergruppen. Wenn ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, dass sie und Landgraf eine Affäre hatten, dann wäre ich niemals auf die Idee gekommen, ihr anzuvertrauen, was ich damals herausgefunden hatte.
Mein Hochgefühl ist mit jedem Kilometer, den ich gefahren bin, weiter weggeschwemmt worden. Ich fühle mich wieder klein wie ein lächerlicher Niemand.
Es war meine Schuld. Ich habe Carolina in den Tod getrieben, auch wenn ich es nicht gewusst habe. Wenn sie mir nur vertraut hätte, wäre das nie passiert. Und deshalb hat auch sie mich letztlich verraten.
Sobald mein Vater aufkreuzt, stirbt bei allen Frauen der Verstand ab. Sogar bei Ally, von der ich dachte, sie wäre anders. Na ja,
Weitere Kostenlose Bücher