Luegenherz
habe. Ich stehe in einer rosabraunen Zaubergrotte, in der es regnet, Wasser tropft von überall her, auch aus der gewölbten Decke, aber diese Decke sieht aus, als würden aus ihr lauter weißgelbe Makkaroni wachsen. Ich muss dieses Wunder einen Moment betrachten und kurz zu Atem kommen, hier geht auch ein Luftzug, der beruhigend wirkt.
Ich versuche, nicht daran zu denken, wo ich bin. Sofort den Gedanken an Tonnen von Stein abzuschalten, mich auf das Wasser zu konzentrieren, das glucksend und schmatzend und gurgelnd von überall her zu kommen scheint. Es hat sich am Boden gesammelt, sodass ich durch fast hüfthohes Wasser vorwärts waten muss.
Ich schaue mich um, ob ich irgendwo einen Haken in der Wand sehe, als Zeichen dafür, wo es weitergeht, aber ich kann nichts entdecken. Von dieser Grotte gehen zwei Löcher ab, ich wate durch das Wasser zum linken Loch und rufe hinein. Nichts. Dann schleppe ich mich zu dem rechten und rufe. Wieder nichts.
Und jetzt? Wie finde ich jetzt heraus, wo es weitergeht? Ich habe nicht mal eine Münze zum Werfen. Ich gehe links, links ist dort, wo das Herz ist.
Hier kann man fast aufrecht gehen, aber nach einer Krümmung endet dieser Höhlengang abrupt vor einer schwarzen Wand. Ich wate durch das Wasser wieder zurück und versuche es mit dem rechten Gang. Der ist zuerst auch sehr hoch, aber schmal, und komischerweise ist hier kein Wasser am Boden, wieso nicht? Die Wände wölben sich mir mit unregelmäßigen Ausbuchtungen entgegen und ich muss langsam gehen, damit ich nicht anstoße.
Und dann höre ich plötzlich Stimmen. Ich laufe, so schnell es geht, haue mir deshalb den Kopf ein paarmal an, aber ich bilde mir ein, wieder etwas zu hören.
»Halloooo!«, rufe ich und hier wird meine Stimme auch nicht verschluckt wie vorhin im Briefkasten, hier gibt es sogar ein Echo. Aber nur von meiner Stimme, nicht von Jurys oder Landgrafs.
Dahinten scheint sich der Gang wieder zu verbreitern. Ich beeile mich noch mehr und rufe immer wieder »Halloooo!«.
»Looo«, kommt es zurück, ich schweige und hoffe, etwas zu hören. Ja, tatsächlich, da kommt ein ganzes »Hallo!«. Großartig, ich kann zwar nicht sagen, wer das gerufen hat, aber das war ganz eindeutig kein Echo.
»Oh mein Gott!« Was ich da vor mir sehe, ist gewaltig und entsetzlich zugleich. In der Mitte des Gewölbes führt ein höchstens unterarmbreiter Pfad über einen Abgrund, der auf beiden Seiten so tief ist, dass ich gar keinen Boden sehen kann, nur Dunkelheit. Doch dieser Pfad ist kein normaler Weg, sondern er besteht aus nebeneinander hochstehenden steinernen Pfeilspitzen, die nur ab und zu von kleinen Plateaus umgeben sind. Ich beuge mich vor und fasse die nächsten vor mir hochstehenden an. Scharf wie eine Schwertspitze.
Da höre ich wieder ein schwach entferntes Hallo. Los, Ally, was gibt es da noch zu zögern? Und wenn ich dort runterfalle? Dann bin ich sicher mausetot, vor allem, wenn da unten auch solche Spitzen aus Stein lauern.
Ich muss den Schleifsack, der auch zwei Tragegurte hat, wie einen Rucksack anlegen, denn über diese Spitzen muss ich klettern. Ich steige aus dem Gurt mit den Trittschlaufen, quetsche alles oben auf den Schleifsack und schnalle ihn um.
Wünschte, ich wäre nicht so nass.
»Halloooo!«, ruft es wieder. Es liegt vielleicht an der Akustik in der Höhle, aber ich bilde mir ein, dass es weder Jury noch Landgraf ist, die Stimme klingt viel heller.
»Ist alles okay?«, brülle ich, weil ich mir überlege, dass ich dann vielleicht nicht über den Grat klettern muss. Hier unter der hohen Decke des Gewölbes und auf stabilem Untergrund fühle ich mich wohler und nicht so eingeschlossen.
»Nein!« Die Stimme ist jetzt viel näher.
Ich versuche, am anderen Ende der Schlucht etwas zu erkennen. Nichts.
»Hallo?« Die Stimme ist näher gekommen.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, aber das andere Ende der Schlucht liegt im Dunklen. Plötzlich blendet mich eine Lampe.
»Ally, verdammt, was machst du denn hier? Was hast du hier zu suchen? Wo sind Jury und Landgraf?«
»Mila?«
»Hast du die zwei irgendwo getroffen?«, ruft sie.
Meine Knie werden plötzlich wieder zu Gummi. Mila steht dort drüben. Mila, die bei mir eine Göttin des Todes in Auftrag gegeben hat. Und ich bin mit ihr in einer Höhle – alleine. Ich sollte mich sofort aus dem Staub machen.
Aber was wird dann aus Jury?
»Ally. Bitte, warte«, schreit Mila, als ich mich von ihr wegdrehe, aber ich werde nicht wieder auf ihr Getue
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