Luegnerin
spitz.
Ich überlege, ob ich die Seite herausreißen soll. Um sie mit Sarahs Handschrift zu vergleichen. Sie ist so überspannt und poetisch. Es klingt wie etwas, das sie sagen könnte.
Findet Sarah, dass Zach ein böses Herz hat? Oder sie selbst? Ist es eine Message für mich?
Ich blättere immer weiter, aber das sind die einzigen Worte, die nichts mit seinem Gewicht und seinen Spielen zu tun haben.
Ich durchsuche den Rest des Zimmers, aber ich weiß nicht, wonach ich suchen soll, und deswegen finde ich es auch nicht.
Ich nehme mir eins von seinen schmutzigen Trikots. Es hat die Nummer 12 auf dem Rücken. Es stinkt nach ihm. Ich habe vor, es nie zu waschen.
NACHHER
Das Gerücht, dass Erin Moncaster verschwunden ist, streicht durch die Schule. Von Schüler zu Schüler, von Klasse zu Klasse. Auch bei den Lehrern.
Ich weiß nicht genau, wer Erin ist. Ihr Name kommt mir nicht bekannt vor.
Ich höre es zuerst in Englisch, während wir uns mit einem Gedicht über eine Kühltasche abmühen. Chantal flüstert es Sarah zu.
»Nein«, sagt Sarah.
Erst Zach, jetzt Erin. Ist sie tot? Haben sie sich gekannt?
Sie ist eine von den Freshmen. Er ist ein Senior. Da erscheint es unwahrscheinlich. Ich kann geradezu hören, wie sie denken, wie unwahrscheinlich es war, dass Zach etwas mit mir zu tun hatte. Warum also nicht auch mit Erin? Es kann kein Zufall sein. Zwei Kids aus derselben Schule, die in so kurzer Zeit verschwinden. Wie oft kommt so was schon vor?
Gibt es dort draußen jemanden, der diese Schule hasst? Wird es noch einmal passieren?
Ich kann die Angst riechen. Chantal trägt schon Pfefferspray mit sich herum. Bis zum Ende des Tages sagen auch andere Mädchen, dass sie das tun werden. Das oder eine laute Trillerpfeife. Bei den Jungs ist von Messern die Rede.
Ich habe keine Angst. Ich sitze in »Gefährliche Worte« und kriege nichts mit von irgend so einem Kodex, den wir nach Meinung unserer Lehrerin Lisa Aden anscheinend kennen sollten. Regeln für Hollywood in den guten alten Zeiten. Wen interessiert das denn?
Ich werde mich nicht bewaffnen. Die Oldies sagen, man sollte nie eine Waffe bei sich tragen, wenn man nicht weiß, wie man sie benutzt. Ich weiß, wie man mit einem Messer jagt. Großmutter hat mir beigebracht, wie man mit einer Schleuder und mit Pfeil und Bogen umgeht. Aber es liegen Welten dazwischen, ein Kaninchen oder sogar ein Reh zu töten oder sich gegen einen anderen Menschen zu verteidigen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass mich jemand angreifen könnte. Ich bin zu schnell.
»Micah?«, sagt Lisa laut.
Ich blicke auf. »Tschuldigung«, sage ich.
»Weißt du die Antwort?«
»Ähm.«
»Weißt du die Frage?«
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich habe an Erin Moncaster gedacht.«
Sie nickt. »Das geht vielen von uns so. Aber wir müssen mit dem Unterricht weitermachen. Meine Frage war: Wie lauten einige der Wörter, deren Gebrauch heute allgemein akzeptiert ist, die aber früher durch die Zensur des Production Code verboten waren?
»Ähm«, sage ich wieder. Ich habe keine Ahnung. Ich suche nach einem Wort, dass damals möglicherweise schlimm war, aber heute nicht mehr so. »Verdammt?«, frage ich.
»So ungefähr«, sagt Lisa und fängt an zu erklären. Ich blende mich wieder aus.
Ich versuche mich zu erinnern, wer genau Erin war. War sie schwarz oder weiß? Der Name klingt irgendwie eher weiß. Ich achte eigentlich nicht auf die Freshmen,
sondern bin immer nur froh, dass ich nicht mehr dazugehöre. Nur noch ein paar Monate, und dann bin ich hier raus. Sie müssen noch jahrelang ausharren.
Um ganz ehrlich zu sein: Erin ist mir eigentlich egal. Vielleicht habe ich deswegen keine Angst. Erin ist nicht Zach. Dass sie verschwunden ist, bringt ihn auch nicht zurück. Ein Teil von mir ist sauer, dass alle über sie reden. So als wäre sie genauso bedeutsam wie Zach. Als hätten sie ihn vergessen.
Ich hasse sie. Am Ende dieses Tages voller Gerede und Spekulationen, bis hin zu dem Gerücht, dass sie und Zach zusammen waren, fange ich an, auch Erin zu hassen.
Zach ist noch nicht einmal begraben.
VORHER
Ich habe diesen DNA-Test nur mitgemacht, weil die Ergebnisse zu uns nach Hause geschickt wurden, nicht an die Schule. Weil Yayeko versprochen hatte, dass wir die Ergebnisse nicht der Klasse mitteilen müssten, wenn wir das nicht wollten. Ich hätte es vermutlich nicht tun sollen. Ich war neugierig.
Aber als die Ergebnisse kamen, habe ich sie ungeöffnet in einer Schublade versteckt.
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