Luegnerin
Ich wollte die Bestätigung der Familienkrankheit nicht schwarz auf weiß vor mir sehen. Und ganz sicher würde ich die Ergebnisse nicht den anderen im Biologieunterricht sagen.
Aber ich war da an dem Tag, an dem alle – außer mir – ihre Ergebnisse bekannt gaben.
Keiner war 100 Prozent irgendwas.
Das hätte ich ihnen auch ohne die teuren Tests sagen können.
Die ganze Klasse war in Aufruhr. Jeder rief jedem sein Ergebnis zu. Lachte. Nur ein paar von uns saßen ganz still da. Ich zum einen. Zach zum anderen. Er saß hinten, ich weiter vorne. Aber ich konnte seine Stille hören.
Brandon glaubte es nicht. Oder zumindest behauptete er, dass er es nicht glaube. Aber seine 11 Prozent afrikanischer DNA machten ihn glücklich. Er fing an,Witze übers Basketball zu reißen. Als ob ihm dieses Fitzelchen afrikanischer DNA plötzlich zu einer besseren Dribbel-Technik verhelfen würde.
»Oh bitte«, sagte Tayshawn und schaute Brandon an, als wäre dieser etwas Ekliges, das an seiner Schuhsohle klebte.
»II Prozent!«, sagte Brandon.
»Womit du zu 89 Prozent ein Blödmann bist«, sagte Tayshawn.
Alle lachten. Brandon setzte zu einer Erwiderung an, aber Tayshawn war lauter. »Hier steht, dass ich zu 23 Prozent weiß bin. Bedeutet das etwa, dass ich ein Börsenmakler werde, der nicht tanzen kann? Ich bitte dich!«
Brandon lachte, als würde es ihm nichts ausmachen. Aber das stimmte nicht. Der Blick, den er Tayshawn zuwarf, war bitterböse.
»Was, glaubt ihr, haben diese Zahlen zu bedeuten?«, sagte Yayeko Shoji in die kurze Stille hinein.
Keiner meldete sich.
Ich wusste, was es bedeutete: dass keiner genau das ist,
für was er sich hält.Wir haben alle mögliche DNA in uns: schwarz, weiß, asiatisch, indianisch, von Menschen, Affen, Reptilien, Müll-DNA, alle möglichen Gene, die nicht zur Ausprägung kommen.
Ich habe die Familienkrankheit. Mein Bruder nicht, ebenso wenig wie mein Vater. Aber wer weiß, was passiert, wenn Jordan mal Kinder hat? Seine Gene sind ebenso betroffen wie meine.
»Haltet ihr diese Zahlen für bedeutungsvoll?« Yayeko sah sich im Raum um und nahm mit jedem Einzelnen Blickkontakt auf.
»Also, ich glaube nicht«, meinte Lucy vorsichtig. »Weil hier zwar steht, dass ich 10 Prozent asiatisch bin und 3 Prozent afrikanisch, aber dann trage ich im nächsten Formular, das mich nach meiner Rasse fragt, doch wieder ›weiß‹ ein.«
Überall in der Klasse war zustimmendes Gemurmel zu hören.
»Auf diesen Formularen gibt es keinen Platz für Prozente«, meinte Tayshawn. »Man muss sich für eins entscheiden.«
Yayeko nickte. »Genau. Außerdem sind diese Tests momentan noch nicht besonders verlässlich.«
Das Gemurmel wurde lauter. Brandon krähte: »Warum haben wir’s dann überhaupt gemacht?«
Yayeko hielt die Hand hoch. »Die Fähigkeit des Tests, eure DNA zu identifizieren, hängt davon ab, welche DNA das Unternehmen in seiner Datenbank hat.«
Sie wandte sich zur Tafel um und fing an, eine DNA-Spirale zu zeichnen. Das Licht verfing sich in kleinen Kreidepartikeln, die in der Luft schwebten. Ich konnte sie riechen und auf der Zungenspitze schmecken.
»Dieser Test wurde durchgeführt, indem man eure DNA«, damit deutete sie auf die Spirale, die sie gezeichnet hatte, »mit den diversen DNA in der Datenbank dieser Firma verglichen hat«, sagte Yayeko. »Was glaubt ihr wohl, welchen Prozentsatz der weltweiten DNA haben sie dort? 5 Prozent? 10? 15?«
Brandon schaute Will an. Keiner sagte etwas. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ein sehr großer Prozentsatz war. Die Welt ist so groß und es gibt so viele Menschen.
»Weniger als 1 Prozent«, sagte Yayeko schließlich. »Wesentlich weniger. Sie haben also nur eine sehr kleine Datenbank mit DNA. Eine Datenbank, die keineswegs die DNA von allen Menschen auf der Welt enthält.«
Sie wartete einen Augenblick, bis wir das verdaut hatten. Ich fragte mich, wie sie uns überhaupt irgendetwas über uns sagen konnten, wenn sie so wenig Datenmaterial hatten. Trotzdem wollte ich meine Ergebnisse noch immer nicht öffnen.
»Sie beziehen diese DNA aus ›reinen‹ Quellen, afrikanischen, europäischen und asiatischen Gruppen, bei denen es wenig Einheirat in andere Gruppen gegeben hat. Aber es gibt nur noch sehr wenige ›reinrassige‹ Menschen auf der Welt.Viele Kritiker sind deswegen der Meinung, dass diese Tests von falschen Voraussetzungen ausgehen.«
Die Klasse war still. Was sagte Yayeko da? Dass uns die Tests eigentlich gar nichts sagen
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